Donnerstag, 14. Dezember 2023

Bayerns schwäbisches Erbe

Neben Altbayern und Franken ist Bayerisch Schwaben die dritte Region des Freistaats. 'Schwaben' ist zugleich der Name einer viel größeren historischen Landschaft, deren Ausdehnung unklar istwas zu 'Schwaben" gehört und was nicht, hat sich im Verlauf der Geschichte mehrfach verschoben. Der Artikel schildert die Ursprünge Schwabens, sein wechselvolles Verhältnis zu Bayern, und wie sich Bayern im 19. Jahrhundert den östlichen Streifen des vormaligen Schwaben aneignete.

Die Geschichte Bayerisch Schwabens muss anders erzählt werden als die Altbayerns oder Frankens. Während dort historische Linien ungebrochen vom Mittelalter bis heute führen, bezieht sich 'Schwaben' auf ein in der Geschichte versunkenes Land: einst Baierns Schwester-Herzogtum im Süden des deutschen Sprachraums, zerfiel Schwaben im 13. Jahrhundert. Mehrere Staaten traten sein politisches Erbe an, darunter Baden und Württemberg, die Schweiz, sogar Frankreich (mit dem Elsass), und bis ins 19. Jahrhundert auch Österreich. In napoleonischer Zeit erwarb Bayern—nach jahrhundertelangen, meist erfolglosen Versuchen, sich im vormaligen Schwaben festzusetzen—schließlich das Gebiet zwischen Lech und Iller, und König Ludwig I. schuf den Kreis ‘Schwaben und Neuburg’: den Vorläufer des heutigen Regierungsbezirks.

Antike Vorläufer: Sueben...

Julius Cäsar, Schwabenkrieger 

Was ist eigentlich ein ‚Schwabe‘? Der Begriff taucht—als lateinisch ‚Suebi‘—erstmals bei römischen Autoren auf: Julius Cäsar, Tacitus oder Ptolomäus bezeichneten damit germanische Stammesverbände, die Krieg gegen Rom geführt hatten. Wen genau die Autoren meinten, läßt sich heute nicht mehr eindeutig feststellen: die Sueben genossen hohes Ansehen ob ihrer Kampfeskraft, weshalb viele germanische Stämme zu ihnen gezählt werden wollten.

Geographisch und zeitlich entsprechen die Sueben in etwa den Elbgermanen: einer archäologisch definierten Gruppe, die um die Zeitenwende im heutigen Nordostdeutschland und in Böhmen lebte und ähnliche Kulturgegenstände—Kleidung, Keramik, Waffen—benutzte. Während der Völkerwanderung zog ein Teil der Elbgermanen nach Süden. Viele süddeutsche ‚Stämme‘—auch Altbayern und moderne Franken—haben vermutlich elbgermanische Wurzeln. In diesem ursprünglichen Wortsinn sind wir also alle Sueben, bzw. Schwaben.

... und Alamannen

Frühe Ausbreitung der Alemannen
Im dritten nachchristlichen Jahrhundert taucht ein weiterer Begriff auf: „Alamanne“. Um das Jahr 260 nutzten die Alamannen eine Krise des römischen Reiches und verdrängten die Römer aus dem heutigen Baden-Württemberg.[1] Alamannen heißt „alle Männer“, was auf einen losen Zusammenschluss von Menschen deutet, und (noch) nicht auf einen ethnisch definierten ‘Stamm‘. Archäologische Funde legen nahe, dass die meisten Alamannen Elbgermanen waren, und damit Sueben.

In den folgenden Jahrhunderten bezeichneten ‘Schwabe‘ und ‚Alemanne‘ meist das Gleiche: im Frühmittelalter war ‚Alemanne‘ gebräuchlicher, später dann ‚Schwabe‘. Die heute übliche Begriffstrennung stammt erst aus dem 19. Jahrhundert, als die Badener Markgrafen nach Wegen suchten, sich von Württemberg abgrenzen. Sie beanspruchten das Wort ‚Alemanne‘ für sich und nannten die Württemberger fortan ‘Schwaben’. Historisch betrachtet führt diese Unterscheidung eher in die Irre.

Baierns Schwesterregion

Schwabens (bzw. Alemanniens) Frühgeschichte verlief weitgehend parallel zu der Baierns. Um das Jahr 500 verloren alemannische Verbände mehrere Schlachten gegen den Frankenkönig Chlodwig und mussten sich seiner Vorherrschaft unterwerfen.[2] Chlodwigs Nachfolger setzten ‚Duces‘ aus fränkischem Adel ein, die das Land an ihrer Stelle verwalten sollten: Alemannien wurde zum Herzogtum.

Der Lech: mittelalterliche Verwaltungsgrenze

Am Lech grenzte Alemannien an das ebenfalls von den Franken eingerichtete Herzogtum Baiern. Im 6. Jahrhundert war der Lech noch eine reine Verwaltungsgrenze, denn greifbare Unterschiede zwischen Alemannen und Bajuwaren sollten sich erst später herausbilden. Im Süden endeten beide Herzogtümer zunächst am Alpenrand. Schon bald aber rückten alemannische Siedler in die Bergtäler vor und verdrängten die romanisch-keltische Vorbevölkerung. Frühe Zentren alemannischer Kultur waren die Bischofssitze Konstanz und Augsburg. Dazu kamen Klöster: im 8. Jahrhundert Sankt Gallen und Reichenau, etwas später Kempten, Füssen und Ottobeuren.

Das erste alemannische Herzogtum endete tragisch. Im 8. Jahrhundert geriet Alemannien in das Visier der Karolinger, welche die Macht im Frankenreich zentralisieren wollten.[3] Ab ca. 730 verstrickte Karl Martell die Alemannenherzöge in bittere Kämpfe. Sein Sohn Karlmann vollendete das Werk: im „Blutgericht von Canstatt“ ließ er 746 den Großteil des alemannischen Adels hinrichten und löste das Herzogtum auf.

Erst Reichsland...

Schwaben und Hochburgund um 1000
Anfang des 10. Jahrhunderts, als die Karolinger ausstarben, formten sich die Stammesherzogtümer neu. Hier aber enden die Parallelen mit Baiern: denn anders als das Nachbarland verblieb Schwaben—wie es nun meist genannt wurde—fest im Griff der Zentralmacht. So ignorierte König (und später Kaiser) Otto der Große den lokalen Adel und belehnte 950 seinen Sohn Liudolf mit dem Herzogtum. Von da an hatten meist diejenigen das Sagen in Schwaben, die auch die Geschicke im Reich bestimmten: Konradiner, Ottonen, Salier. Schwaben wurde zum Reichsland.

Die letzte große schwäbische Herrscherfamilie waren die Staufer. Fast 200 Jahre lang—von 1079 bis 1268—stellten sie den schwäbischen Herzog, beinahe ebenso lang den römischen-deutschen König. Der letzte Staufer, Konradin, ließ sich auf ein Kriegsabenteuer in Italien ein. Sein Onkel, Herzog Ludwig von Baiern-München, stellte ihm ein Heer zusammen, allerdings um den Preis der Verpfändung staufischer Gebiete. Konradin scheiterte und wurde auf dem Marktplatz von Neapel hingerichtet. Im Zuge des ‚konradinischen Erbes‘ fielen erstmals Gebiete westlich des Lechs an Baiern: Donauwörth, Gundelfingen, Lauingen, Schongau, die Herrschaft Schwabegg westlich von Landsberg.

... dann zerbröselt

Schwabens Ende
Mit Ende der Staufer zerfiel auch bald das Herzogtum, denn niemand besaß danach genügend Autorität, um Schwaben unter seiner Führung zu vereinen. Ein Machtvakuum entstand im Südwesten Deutschlands, das neuen Kräften erlaubte, sich auszubreiten. So formte sich im späten 13. Jahrhundert die Schweizer Eidgenossenschaft. Herrscher von bislang eher untergeordneter Bedeutung, wie die Württemberger Grafen, konnten ihr Territorium und ihren Einfluss erheblich ausweiten. 

Auch die bairischen Wittelsbacher hätten sich gern noch stärker an der schwäbischen Erbmasse bedient, doch trat ihnen ein ungewöhnlich fähiger Rivale entgegen: Rudolf von Habsburg, ab 1273 deutscher König.[4] Das Bollwerk, das Rudolf errichtete, sollte Baiern—von wenigen Ausnahmen (Mindelheim, Illertissen) abgesehen—mehr als 500 weitere Jahre aus Schwaben fernhalten.

Rudolfs Bollwerk

Rudolf von Habsburg

Rudolf setzte auf Reichsunmittelbarkeit, um die Konkurrenz in Zaum zu halten: er unterstellte Territorien direkt dem König (=sich selbst), ohne dass ein Landesfürst dazwischengeschaltet gewesen wäre. Davon profitierten insbesondere Ostschwabens Städte. Im Hochmittelalter hatten Handwerk und Gewerbe rasch an Bedeutung gewonnen, ein zunehmend selbstbewusstes Stadtbürgertum wollte seine Angelegenheiten selbst regeln. Der Weg zur Selbstbestimmung führte über das Bündnis mit dem Königtum: Augsburg, Kaufbeuren, Kempten, Lindau und Memmingen erhob Rudolf zu Reichsstädten, unter seinem Sohn Albrecht kam noch Donauwörth dazu. So entstand eine dichte Städtelandschaft, die Ostschwaben noch heute charakterisiert, und die es vom benachbarten Altbayern unterscheidet. 

Zu den Reichstädten kam ebenfalls reichsunmittelbarer Kirchenbesitz: das bischöfliche Hochstift Augsburg—das sich von Dillingen an der Donau bis nach Füssen am Alpenrand erstreckte—die Fürstprobstei des Kemptner Klosters, und kleinere Reichsklöster wie Ottobeuren, Elchingen oder Irsee. Für weltliche Fürsten blieb da wenig Platz. Die wichtigsten waren: (i) die Habsburger selbst, nachdem sie  1301 die Grafschaft Burgau im Westen Augsburgs erworben hatten, (ii) die Wittelsbacher, und (iii) die Grafen von Oettingen nördlich der Donau.[5]

Der schwäbische Reichskreis

1376 schlossen sich die Reichsstädte zum schwäbischen Städtebund zusammen, um sich besser gegen die Territorialfürsten—insbesondere Württemberg und Baiern—wehren zu können. Im 15. Jahrhundert folgte der schwäbische Bund, dem auch weltliche und geistliche Herrschaften angehörten, und im 16. Jahrhundert der schwäbische Reichskreis: ein Zusammenschluss benachbarter Herrschaften, um gemeinsame Angelegenheiten wie die Grenzsicherung und das Münzwesen zu regeln. Der Reichskreis war kleiner als das mittelalterliche Herzogtum: so galt die Schweiz nicht mehr als Teil Schwabens, ebensowenig das Elsass. Das Breisgau zählte als Habsburger-Besitz zum österreichischen Reichkreis.[6]

Augsburg, Ostschwabens Metropole

Die meisten schwäbischen Reichsstädte waren klein: sie zählten allenfalls ein paar tausend Einwohner. Augsburg aber war ein anderes Kaliber. In der Antike war es als “Augusta Vindelicorum” Hauptstadt der römischen Provinz Rätien gewesen; Augsburg lag deshalb an der Schnittstelle mehrerer Römerstraßen, die auch im Mittelalter in Gebrauch blieben. Ein Bischofssitz existierte ab dem 6. oder 7. Jahrhundert, unmittelbar an der bairisch-alemannischen Grenze. Die Augsburger Bischöfe erlangten überregionale Bedeutung als treue Verbündete der Zentralmacht, die bei inneren wie äußeren Konflikten meist zu den fränkischen und (später) deutschen Herrschern hielten.[7] Mit dem Aufkommen des Fernhandels im Hoch- und Spätmittelalter wurde Augsburg zu einem wichtigen Handelsplatz und zu einem Zentrum der Textil- und der Montanindustrie (Bergbau).

Jakob Fugger
Augsburgs große Zeit aber kam im 16. Jahrhundert, als Kaufmanns-Dynastien wie die Fugger und die Welser die Stadt zum Mittelpunkt eines weltweiten Handelsnetzwerkes machten. Um 1600 zählte Augsburg rund 40.000 Einwohner. Gemeinsam mit Nürnberg war es die größte Stadt Süddeutschlands—weit vor München und anderen Residenzstädten. Jakob Fugger, der wohl bedeutendste Unternehmer in Augsburgs Geschichte, diente dem Habsburger-Kaiser Maximilian I. als Hausbankier. Maximilian erhob Jakob 1514 in den Reichsgrafenstand, was jenem erlaubte, Ländereien in Ostschwaben aufzukaufen—ein atemberaubender Aufstieg für eine Familie, die im 14. Jahrhundert noch Weber und Kleinbauern in Augsburgs Umland gewesen waren.

1548 wurde Augburg zur „paritätischen Stadt“: beide Konfessionen waren zugelassen, Ämter wurden zwischen Katholiken und Protestanten aufgeteilt.[8] Der Dreißigjährige Krieg—der in Ostschwaben Verheerungen anrichtete wie in kaum einer anderen Region—zerstörte auch den Religionsfrieden. Der westfälische Friede stellte ihn 1648 wieder her, ihm gedenken die Augsburger seitdem alljährlich im ‚Hohen Friedensfest‘.

Bayerische Schwaben

Der Pate des heutigen Bayerisch Schwaben ist Napoleon. 1803/05 übertrug er Bayern die meisten Reichsstädte und kirchlichen Gebiete Ostschwabens, als ‘Entschädigung’ für den Verlust Bayerns linksrheinischer Besitzungen a das revolutionäre Frankreich. Wenig später wurden auch die kleineren weltlichen Herrschaften zur Verteilungsmasse für die Großen. Wittelsbacher und Habsburger bekämpften einander erneut heftig und versuchten wiederholt, sich auszumaneuvrieren. Als sich jedoch Napoleons Niederlage abzeichnete,  verständigten sie sich darauf, dass Bayern seine Ansprüche auf Salzburg, Tirol und das Innviertel aufgab, während Österreich in Schwaben zurücksteckte. So kam 1806 auch die Habsburger-Exklave Burgau zu Bayern.

Ludwig I., Herzog in Schwaben

Mehr als 500 Jahre nach dem Ende des schwäbischen Herzogtums war Ostschwaben damit größtenteils bayerisch geworden.[9] 1837 schuf König Ludwig I. den Kreis Schwaben und Neuburg, den Vorgänger des heutigen Regierungsbezirks Bayerisch Schwaben. Der Name knüpfte bewusst an das  mittelalterliche Herzogtum an. Ludwig startete eine Charmeoffensive: er bereiste das Land, betonte die Herkunft der Wittelsbacher aus dem bairisch-schwäbischen Grenzgebiet, und nannte sich ‚Herzog in Schwaben‘. 

Zugleich überzogen Bayerns Könige das Land mit einer strikt zentralistischen Verwaltung—ein Schock für das zuvor so kleinteilige, multipolare Ostschwaben. Besonders hart traf es Augsburg. Zwar besaß es längst nicht mehr die Bedeutung wie zu Fugger-Zeiten, aber es war es doch eine herbe Degradierung, jetzt im Schatten Münchens zu stehen: der schnell wachsenden und von Ludwig entschlossen geförderten Residenzstadt, die weniger als 60 Kilometer von Augsburg entfernt lag. 
Quelle: E. Buringh (2020), European Urban Population 700-2000

Die deutsche Revolution von 1848 fand viel Zuspruch in Bayerisch Schwaben, ebenso die Gründung des Kaiserreichs 1870. Bisweilen hatte die Begeisterung einen anti-bayerischen Anstrich—der jedoch nie das Gewicht erlangte wie etwa in FrankenEine Ursache mag darin liegen, dass nur ein Teil des vormaligen Schwaben an Bayern gekommen war. Andere Teile wurde von Herrschern regiert, die den Ostschwaben nicht weniger fremd waren, wie den Württemberger Königen.[10] Ein gesamtschwäbisches Bewusstsein konnte da schwer entstehen. Auch empfanden sich die Bewohner Bayerisch Schwabens nicht notwendig als Einheit—stattdessen bildeten sich im 19. Jahrhundert klein-regionale Identitäten heraus, wie im Allgäu und im Nördlinger Ries. 

Schliesslich war Ostschwaben im 19. und 20. Jahrhundert wirtschaftlich außerordentlich erfolgreich: seine lange Tradition städtischen Gewerbes und die Teilnahme am Fernhandel hatten es besser auf die moderne Industriegesellschaft vorbereitet als andere Regionen. Viele Schwaben sahen ihren Wohlstand als Ergebnis der Eingliederung in den bayerischen Wirtschaftsraum.

Dialekt

Dialekte in Bayerisch Schwaben nach König (2010)
Zum Schluss noch einen Blick auf den Dialekt. Er lässt keinen Zweifel am schwäbischen Erbe der Region: von der Gegend um Aichach abgesehen—die erst 1972 im Zuge einer Gebietsreform zu Bayerisch Schwaben kam und Mittelbairisch spricht—dominieren überall schwäbisch-alemannische Dialekte. Die meisten sind Varianten des Ostschwäbischen, mit Ausnahme der Dialekte des West- und des Oberallgäus, die zum Bodenseealemannischen zählen.[11] ‚Bodenseealemannisch‘ wiederum ist ein Sammelbegriff für Übergangsdialekte, die sich weder dem Schwäbischen (im engeren Sinn) noch dem Hoch- bzw. Höchstalemannischen (=Schweizerdeutsch) eindeutig zuordnen lassen.

Ein anderes Übergangsgebiet liegt in Oberbayern: der Lechrain, die Region zwischen dem Lech im Westen und der Ammer bzw. dem Ammersee im Osten.[12] Der Lechrain war einst gespickt mit Klöstern—Dießen, Steingaden, Wessobrunn—die erst mit der konradinischen Schenkung (siehe oben) firm in den bairischen Einflussbereich gelangten. Viele lechrainer Klöster besaßen Güter in Tirol, nach den Verlusten des dreißigjährigen Kriegs  füllten sie ihr Land mit tiroler Siedlern auf. So mischen sich im Lechrain ostschwäbische, mittelbairische und südbairische (=tirolerische) Elemente zu einer ganz eigenen Mundart. 

Leider ist das „Lechroanische“ auf dem Rückzug—wie die Dialekte Bayerisch Schwabens auch.

 

Der Artikel stützt sich auf eine Vielzahl von Quellen, die wichtigsten sind: Rolf Kießling, „Kleine Geschichte Schwabens“ (2013); Werner König, „Kleiner Sprachatlas Bayerisch Schwabens“ (2007); und der Aufsatz von Pankraz Fried (2012) „Geschichte Bayerisch Schwaben“ auf der Webseite lechrain1.de. Dazu mehrere Artikel aus dem „Historischen Lexikon Bayerns“ und von Wikipedia.

Bildnachweise: sämtlich Wikimedia Commons, mit Ausnahme von "Dialekte in Bayerisch Schwaben", was dem Historischen Lexikon Bayerns entstammt. "Einwohnerentwicklung Augsburg und München” ist eine eigene Arbeit.


[1] Rom nahm daraufhin seine Grenze zurück: sie verlief jetzt entlang der Donau, der Iller, des Bodensees, und des Rheins. D.h. anders als Baden-Württemberg verblieb der Großteil des heutigen Bayerisch Schwaben beim römischen Reich. Es lag jetzt jedoch im unsicheren Grenzland. Augsburg und Kempten—die ältesten Städte im Freistaat—wurden 270 von Alamannen zerstört. Kempten wurde nicht wieder aufgebaut und erst 500 Jahre später als Klostersiedlung neu gegründet.

[2] Für einige Jahrzehnte flüchteten sich die Alemannen unter die Schutzherrschaft des Ostgotenkönigs Theoderich. 536 überließ ein Nachfolger Theoderichs den Franken kampflos das Voralpenland.

[3] Die Karolinger handelten zunächst als „Hausmeier“—d.h. Verwalter—des fränkischen Reichs im Auftrag der Merowinger-Könige, ab Pippin (751) stellten sie dann selbst den König. Alemanniens Schicksal war kein Einzelfall: zwischen 716 und 719 beseitigte Karl Martell das Hedenen-Herzogtum in Würzburg, 788 setzte Karl der Große—Martells Enkel—den Baiernherzog Tassilo ab.

[4] Rudolf ist eine der prägendsten Figuren des Spätmittelalters. Bis zum Alter von 55 Jahren war er ein mäßig bedeutender Graf im südlichen Elsass und im Aargau (heutige Schweiz). 1273 verständigten sich Deutschlands Kurfürsten dann überraschend auf Rudolf als deutschen König. Zum einen wollten sie die chaotische, königslose Zeit des ‚Interregnums‘ beenden. Zum anderen galt es, Ottokar, den König Böhmens, als deutschen König zu verhindern, der nach dem Aussterben der Wiener Babenberger 1246 die Herzogtümer Österreich, Steiermark und Kärnten unter seine Kontrolle gebracht hatte und eine Machtfülle besaß wie kein anderer deutscher Fürst. Ottokar wehrte sich gegen die Ausbootung und zog in den Krieg. Rudolf, gestützt auf eine breite Kriegskoalition, gewann und entzog Ottokar die österreichischen Herzogtümer. 1282 belehnte er damit seine Söhne: die lange Herrschaft der Habsburger über Österreich nahm ihren Anfang.

[5] Burgau war ein Teil ‚Vorderösterreichs‘ und damit des—letztlich erfolglosen—Bestrebens der Habsburger, Tirol und Vorarlberg mit ihren Besitzungen im Elsass und (ab dem 14. Jahrhundert) im Breisgau zu verbinden. 

[6] Der schwäbische Reichskreis war in Viertel eingeteilt (siehe Karte). Dem östlichen Viertel stand das Hochstift Augsburg vor, es entsprach grob dem heutigen Bayerisch Schwaben.

[7] So Bischof Simpert—ein Verbündeter Karls des Großen im Konflikt mit dem Baiernherzog Tassilo—und Bischof Ulrich, der Otto den Großen 955 in Kampf gegen die Ungarn unterstützte. Im Spätmittelalter verloren die Bischöfe die Kontrolle über die Stadt Augsburg und verlegten ihre Residenz schliesslich nach Dillingen an der Donau.

[8] Die Reformation errang in Schwaben wichtige Erfolge, insbesondere den Übertritt der Württemberger Herzöge zum Luthertum. In Ostschwaben behinderten der große Kirchenbesitz und der Einfluss der Wittelsbacher die neue Lehre. Festsetzen konnte sie sich vor allem in den Reichsstädten: Kempten, Memmingen, Lindau und Nördlingen wurden evangelisch, Kaufbeuren paritätisch (wie Augsburg).

[9] Zeitweise (1803-10) ragte Bayern noch tiefer nach Schwaben hinein. Napoleon erzwang jedoch einen Ausgleich zwischen seinen Verbündeten Bayern und Württemberg, und schrieb (über weite Strecken) Iller und Donau als Grenze fest. Damit musste Bayern u.a. Ulm wieder herausgeben—nach Augsburg die bedeutenste schwäbische Reichsstadt. Nur ein paar Ulmer Häuser südlich der Donau verblieben bei Bayern. Aus ihnen sollte sich Neu-Ulm entwickeln, heute nach Augsburg und Kempten die drittgrößte Stadt Bayerisch Schwabens.

[10] Manche betrachten Württemberg als Nachfolger Schwabens. Württemberg war zunächst aber nur eines von vielen schwäbischen Territorien. Nach dem Zerfall des Herzogtums konnten es sein Gebiet vergrößern, aber auch in seiner größten Ausdehnung deckte Württemberg höchstens ein Drittel des einstigen Schwaben ab. Der Norden Württembergs wiederum greift über Schwaben hinaus und liegt im süd- (Heilbronn) bzw. ostfränkischen (Tauberbischofsheim) Sprachgebiet.

[11] Augsburg hat seinen eigenen Stadtdialekt. Dessen Grundstruktur ist zwar eindeutig Schwäbisch, es sind aber bairische Charakteristiken eingesprenkelt. So ist ein Haus in Augsburg ein „Haos“, mehrere davon sind „Haiser“—nicht „Hous“ und „Heiser“ wie im Schwäbischen.

[12] Lechrain bezeichnet eine Landschaft, seine Ausdehnung ist nicht eindeutig festgelegt. Der Süden zählt zum ‚Pfaffenwinkel‘, er hat seinen Namen von den vielzähligen Klöster und Pfarrkirchen der Gegend. 

Samstag, 28. Oktober 2023

Regensburg, Kelheim, Landshut, München: die Suche nach der bayerischen Hauptstadt

München ist Bayerns Hauptstadt. Dieser Satz scheint nahezu naturgesetzlich— dabei wurde München erst 1503, am Anfang der Neuzeit, zum unbestrittenen politischen Zentrum des Herzogtums Baiern. Welche Städte nahmen diese Rolle davor ein? Und seit wann gibt es eigentlich so etwas—eine „Hauptstadt“? Und eine „Stadt“? Eine Überblick über die altbayerische Hauptstadts- und Städtegeschichte.

Als das Stammesherzogtum Baiern Mitte des 6. Jahrhunderts in die Geschichte trat, residierten die Agilolfinger-Herzöge in Regensburg, in den Mauern des antiken römischen Legionslagers. Regensburg lag im äußersten Norden ihres Herrschaftsgebietes, aber auch verkehrsgünstig an der Donau. Hatten die Agilolfinger ihre Hauptstadt gut gewählt?

Das stadtarme Frühmittelalter

Iuvavum (Salzburg) in der Antike
Vermutlich gab es keine andere Wahl—denn es gab keine andere Stadt. Im frühmittelalterlichen Baiern lebten die meisten Menschen vom Land, städtische Wirtschafts- und Lebensformen—wie eigenständiges Handwerk oder Dienstleistungen—gab es kaum. Als Herzog Theodo II. um das Jahr 695 Rupert, den Bischof von Worms, beauftragte, einen Sitz für ein bairisches Bistum zu finden, fand dieser nur zwei geeignete Orte: Lorch an der Enns—ein weiteres ehemaliges Legionslager, das aber zu nahe am Awarengebiet lag und vor Angriffen nicht sicher war.[1] Und Salzburg, wo eine romanische Restbevölkerung in den Überbleibseln einer vormaligen Römerstadt (Iuvavum) lebte. Rupert blieb in Salzburg.

Einen ersten, bescheidenen Anfang der Urbanisierung brachte die Einrichtung weiterer Bistümer im frühen 8. Jahrhundert. Neben Salzburg—das zum Erzbistum erhoben wurde—und der Herzogsresidenz Regensburg wurden auch Passau und Freising Bischofssitze (ferner Eichstätt, das aber keine Gründung der Agilolfinger ist). Die Bistümer und—oft ebenfalls vom Herzog gestiftete—Klöster sollten das Land urbar machen, besiedeln und die Bevölkerung christianisieren. An den Bischofssitzen richteten die Baiernherzöge Pfalzen ein: Orte, an denen sie temporär wohnten, wenn sie das Land bereisten. Die zivilen Siedlungen, welche sich um die Bischofssitze bildeten, zählten meist nicht mehr als ein paar tausend Bewohner, vielleicht auch nur ein paar hundert. Für die nächsten 400 Jahre sollten sie die einzigen Städte in Baiern bleiben.[2]

Regensburg: Baierns erste Metropole

Eine Stadt jedoch ragt unter den frühen bairischen Städten heraus: Regensburg. Nicht nur war Regensburg der Hauptsitz der Baiernherzöge, ihr herzoglicher ‚Vorort‘.[3] Aufwertung erfuhr es ausgerechnet durch Karl der Großen, nachdem jener 788 den Baiernherzog Tassilo entmachtet und Baiern fränkischer Kontrolle unterstellt hatte. Karl verbrachte 791-93 Karl zwei Winter in Regensburg, um Baierns Eingliederung zu überwachen. Sein Beispiel machte Schule: spätere Karolinger-Herrscher ließen sich oft für längere Zeitabschnitte in Regensburg wieder, es wurde zur Kaiser- und Königspfalz.

Steinerne Brücke und Dom, Regensburg
Im Hochmittelalter setzte dann der Fernhandel für Luxusgüter ein. Dank seiner günstigen Lage an der Donau wurde Regensburg zum Umschlagsplatz für Waren aus Südosteuropa und dem Orient. Auch der Handel mit bairischem Salz aus Salzburg und Reichenhall lief größtenteils über Regensburg. Eine Schätzung beziffert Regensburgs Bevölkerung im Hochmittelalter auf 40.000 Menschen—damit wäre es Europas größte Stadt nördlich der Alpen gewesen.[4] Andere Autoren gehen allenfalls von der Hälfte aus, aber auch dann hätte es in der Umgebung nichts Vergleichbares gegeben (Tabelle unten).

Mit wachsendem Wohlstand entstand erstmals mal in Baiern ein Stadtbürgertum. Regensburger Patrizier bauten ab dem 12. Jahrhundert „Geschlechtertürme“, die italienischen Vorbildern folgten: vielstöckige Wohnhäuser, die bis zu 40 Meter hoch sein konnten. Sie prägen bis heute das Stadtbild. Regensburgs Händler und Kaufleute waren es auch, die 1135-46 den Bau der „Steinerne Brücke“ über die Donau finanzierten, eines für seine Zeit einmaliges Bauwerks.

Teuer bezahlte Unabhägigkeit

Anfang des 13. Jahrhunderts waren Regensburgs Bürger so selbstbewußt geworden, dass sie die ortsansässigen Fürsten herausforderten: den Bischof und, insbesondere, den Herzog. 1211 erbaten sie sich vom Kaiser ein eigenes Stadtsiegel, 1233 eine Stadtkanzlei. 1245 schließlich erklärte der Staufer-Kaiser Friedrich II. Regensburg für reichsunmittelbar: keine Autorität war Kaiser und Stadt mehr zwischengeschaltet. Für einen Herzog war damit kein Platz mehr—er musste sich eine andere Residenz suchen (siehe unten). Nach rund 700 Jahren endete Regensburgs Zeit als Hauptstadt Baierns.

Freie Reichsstadt Regensburg (Sonderbriefmarke) 
Bekommen ist Regensburg die Unabhängikgeit eher nicht. Baierns Herzöge, deren Territorium die Stadt einschloss, versuchten in der Folgezeit, Regensburg von den Handelsströmen abzutrennen. Auch flaute der Donauhandel ab, als die Osmanen im 14. Jahrhundert nach Südosteuropa vordrangen. Regensburg geriet zunehmend in Isolation. Der Warenumschlag verlagerte sich in andere süddeutsche Städte: Nürnberg und (etwas später) Augsburg. 

Ende des 15. Jahrhunderts erhoben sich Regensburgs Handwerker und forderten die Rückkehr ins Herzogtum. Fast hätten sie ihren Willen bekommen, aber Kaiser Friedrich III.—ein österreichischer Habsburger—gönnte Baiern den Machtzuwachs nicht und bestand auf Reichsunmittelbarkeit. So blieb Regensburg auf sich allein gestellt und verharrte in Stagnation.

Rivalen an der Isar: München und Landshut

Die nächste Phase der Hauptstadtsuche ist eng mit jener Familie verbunden, die Bayerns Geschichte  mehr als 700 Jahre lang prägen sollte: den Wittelsbachern. Im Jahr 1180 setzte Kaiser Friedrich Barbarossa den rebellischen Welfenherzog Heinrich den Löwen ab und übertrug das Amt auf seinen Gefolgsmann, Graf Otto von Wittelsbach. Otto bezog den Herzogshof in Regensburg. Der Drang der Regensburger nach Eigenständigkeit zwang die Wittelsbacher aber bald, sich nach Alternativen umzusehen. Zunächst bevorzugten sie Kelheim, das zum wittelsbacher Hausbesitz zählte und nur wenige Kilometer donauaufwärts lag—bis 1231 ein unbekannter Attentäter dort Ottos Sohn und Nachfolger ermordete. Ohne diesen Mord wäre Kelheim heute möglicherweise Bayerns Hauptstadt.    

Alter Hof, München
Die Wittelsbacher zogen daraufhin nach Landshut. 1255 teilten zwei Brüder, Ludwig II. und Heinrich, das Herzogtum unter sich auf. Ludwig nahm sich das „Oberland“, wählte München als herzogliche Vorstadt, und bezog den „Alten Hof“ am Rand der ummauerten Stadt. Heinrich bekam das „Niederland“ mit Vorstadt Landshut und residierte in der neu erbauten Burg Trausnitz.[5] Ober- und Niederland waren geographische Begriffe, welche die Lage der Teilherzogtümer an der Donau bzw. der Isar beschrieben, mit der Zeit sollten Ober- und Niederbaiern daraus werden.[6]

München und Landshut waren junge Städte, die erst während der hochmittelalterlichen Stadtgründungsphase des 12. und 13. Jahrhunderts entstanden waren. München verdankte seine Gründung dem schon erwähnten Heinrich dem Löwen. Heinrich ließ 1158 die föhringer Isarbrücke niederbrennen, die auf dem Gebiet des Bistums Freising lag, und erbaute eine neue Brücke einige Kilometer weiter südlich—an der Stelle der heutigen Ludwigsbrücke. Damit sicherte er sich Zolleinnahmen, welche zuvor Freisings Bischof abgeschöpft hatte. Landshut ist eine Wittelsbacher-Gründung aus dem Jahr 1204 und entstand aus einem ähnlichen Zwist um eine Isarbrücke, diesmal mit dem Bischof von Regensburg.

Das Spätmittelalter: Baiern verzwergt—und verstädtert

Viermal Baiern
Die Teilung von 1255 war nur der Anfang. In den kommenden 250 Jahren sollte Baiern unzählige Male geteilt, teil-vereinigt, erneut aufgesplittet, wiedervereinigt werden. Zeitweise gab es neben Oberbaiern-München und Niederbaiern-Landshut auch ein Oberbaiern-Ingolstadt und ein Niederbaiern-Straubing, ein Jahr lang (1331/32) sogar ein Niederbaiern-Deggendorf, während die Landshuter Herzöge in Burghausen eine Zweitresidenz unterhielten. Alle diese Städte waren Wittelsbacher-Gründungen des frühen 13. Jahrhunderts—innerhalb weniger Jahrzehnte hatte sich das Gesicht Altbayerns grundlegend geändert.[7]

München und Landshut blieben jedoch die Hauptresidenzen der Wittelsbacher, und Haupt-Rivalen um die Vorherrschaft in Baiern. Beide Städte wuchsen rasch, auch wenn sie Regensburgs einstige Pracht nicht erreichen sollten. Am Ende des Spätmittelalters zählte München vielleicht etwas mehr als 10.000 Einwohner, Landshut etwas weniger. Die benachbarten Bürgerstädte Nürnberg und Augsburg waren um ein Vielfaches größer (Tabelle).

München setzt sich durch

Entschieden wurde der Wettstreit durch die Biologie. 1503 verstarb der Landshuter Herzog Georg der Reiche, ohne einen Sohn gezeugt zu haben.[8] Ein wittelsbacher Hausvertrag von 1329 sah vor, dass Georgs Besitz den ‚überlebenden‘ Linien zufallen sollte, hier: dem Münchner Herzog Albrecht. Georg hatte kurz vor seinem Tod noch versucht, den Vertrag zu umschiffen, indem er seinen Schwiegersohn als Erben einsetzte. Als dies durchsickerte, brach Albrecht den Landshuter Erbfolgekrieg vom Zaun, den er mit Hilfe des Habsburger-Königs (und späteren Kaisers) Maximilian auch gewann.

Die Zeit der Teilungen war vorbei. München hatte sich durchgesetzt und sollte von da an alleinige Hauptstadt bleiben: 1506 erließ Albrecht das sogenannte Primogeniturgesetz, das künftige Landesteilungen verbat.[9] Landshut sank zu einer Provinzstadt herab—wenn auch zu einer besonders schönen.

Folgen der Teilung

Maximilian I., Baiern-Verkleinerer
Politisch waren die Teilungen des Spätmittelalters eine Katastrophe für Baiern. Nachdem die Teilherzöge hauptsächlich miteinander beschäftigt waren, konnten sie sich gegen Zugriff von aussen kaum wehren. Österreich war Baiern bereis im 12. Jahrhundert entglitten, nun verloren die Herzöge auch die Kontrolle über die bairischen Bistümer, insbesondere Salzburg—Sitz des Erzbischofs und damit gewissermassen Baierns geistige Hauptstadt. Tirol fiel im 14. Jahrhundert größtenteils an Österreich, die Oberpfalz ging für 300 Jahre verloren, Lauf und Hersbruck gingen an Nürnberg. Auch der oben genannte Maximilian ließ sich seine Hilfe für Albrecht königlich entlohnen: neben den noch verbliebenen bairischen Gemeinden in Tirol (u.a. Kitzbühel) sicherte er sich das Mondseegebiet im Salzkammergut.

Kulturell jedoch war die Teilungsperiode ein Gewinn. Sie brachten mehrere Residenzstädte hervor, die urbanes Leben in alle Ecken Altbayerns trugen. Bis heute bestimmen die Wittelsbacher-Residenzen, zusammen mit den frühmittelalterlichen Bischofssitzen der Agilolfinger, Altbayerns Städtelandschaft. Die urbane Dichte Frankens oder Schwabens konnte Altbayern damit nicht erreichen, aber ohne die Landesteilungen gäbe es heute möglicherweise nur Regensburg, Passau, Freising, Landshut oder München, und sonst—nicht viel.

Münchens Aufstieg zur Metropole: erst zäh, dann rapide

In der frühen Neuzeit wuchs München stetig, wenn auch nicht sonderlich schnell.[10] Noch zu Zeiten des Teilherzogtums waren das alte Rathaus und die Frauenkirche entstanden. Im 16. Jahrhundert kamen dann (u.a.) die Residenz und die Renaissancekirche St. Michael dazu, im 17. Jahrhundert die barocke Theatinerkirche und Schloss Nymphenburg, im 18. Jahrhundert die Asamkirche und der Englische Garten. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts jedoch schloss München mit rund 30.000 Einwohnern zu Augsburg und Nürnberg auf—obwohl jene Städte ihre große Zeit als Handelszentren da schon hinter sich hatten. Wien oder Berlin hatten längst über 100.000 Einwohner (Tabelle).

Klassizistisches München, 1842
Der Durchbruch zur Metropole kam erst im 19. Jahrhundert. In den 1830er und 1840er Jahren gab Ludwig I. München erstmals ein großstädtisches Aussehen, als er Leo von Klenze und Friedrich von Gärtner mit der Errichtung zahlreicher representativer, klassizistischer Bauwerke beauftragte, die er meist außerhalb der Altstadt ansiedelte. Klenze erbaute zum Beispiel die Glypothtek und die Propyläen auf dem Königsplatz, die alte Pinakothek, den Marstall und den Königsbau der Residenz. Von Gärtner sind u.a. die Universität, die Ludwigskirche, die Staatsbibliothek und die Feldherrenhalle am Odeonsplatz. 

Um 1850 durchbrach München erstmals die Schwelle von 100.000 Einwohnern und war damit die mit Abstand größte Stadt in Bayern. Die Eingliederung in das deutsche Kaiserreich 1871 sorgte für einen weiteren Schub: München wurde zur Metropole Süddeutschlands. Möglicherweise half, dass die übermächtige Konkurrentin Wien jetzt außerhalb der deutschen Grenzen lag. Um das Jahr 1900 erreichte München eine halbe Million Einwohner.

Heute ist München mit 1.5 Millionen Einwohnern nochmal um ein Dreifaches größer—innerhalb des deutschen Sprachraums wird es nur von Berlin (deutlich) und von Wien und Hamburg (knapp) übertroffen. Als kulturelles Zentrum reicht seine Bedeutung über Bayern hinaus, auch dies zumindest teilweise ein Erbe der kunst- und kulturverliebten Wittelsbacher.

Armut macht schön

Landshuter Altstadt
Regensburg und Landshut—Altbayerns ausrangierte Hauptstädte—haben sich ein anderes Erbe bewahrt: atemberaubende Schönheit. Beide Städte durchlitten nach ihrer Glanzzeit lange Stagnationsphasen, während derer die Mittel fehlten, um die mittelalterliche Pracht dem Zeitgeschmack anzupassen. Als Folge zeigen Regensburg und Landshut heute ein nahezu geschlossenes hoch- bzw. spätmittelalterliches Stadtbild—anders als München, das Bauten aller Epochen prägen. 

Aus Sicht dieses Autors ist es keine Überraschung, dass beide Städte in den letzten Jahrzehnten wieder besonders populär geworden sind.   



[1] Lorch liegt am Zusammenfluss von Enns und Donau im heutigen Oberösterreich. Im Jahr 700 wurde es tatsächlich von den Awaren zerstört.

[2] Von den Beschofssitzen war nur Freising eine wirkliche Neugründung. Passau, Regensburg und Salzburg haben alle römische Wurzeln.

[3] Die Existenz eines eindeutigen Vororts wie in Baiern ist im Frühmittelalter keineswegs selbstverständlich: Herrscher zogen oft von Pfalz zu Pfalz ohne festen Bezugspunkt.

[4] Die ursprüngliche Quelle ist wohl Josiah Cox Russell (1972), „Medieval Regions and their Cities”. Russell meldete  selbst Zweifel an dieser Zahl an („Basle and Regensburg are two cities whose populations are not easy to define in the pre-plague period“), und spätere Schätzungen korrigierten die Zahl meist deutlich nach unten. Russell’s Zahl hat sich jedoch verselbständigt und wird meist als Fakt ohne Quellenangabe oder Kontext wiedergegeben.

[5] Die Teilung war an sich rechtswidrig, denn herzogliche Lehen durften nicht aufgesplittet werden. Sie geschah im kaiserlosen „Interregnum“ des 12. Jahrhunderts, als die Zentralmacht zu schwach war, um das Recht durchzusetzen.

[6] Die mittelalterlichen Teilherzogtümer sind nur lose mit den heutigen Regierungsbezirken Ober- und Niederbayern verbunden. Letzteres sind historisierende Begriffe, die König Ludwig I. 1837 dem Isar- bzw. Unterdonaukreis gab, die sein Vater Maximilian und Graf Montgelas erst 1817 geschaffen hatten. Niederbaiern z.B. war deutlich größer als Niederbayern, es umfasste u.a. das Chiemgau, das Berchtesgadener Land, die Gegend um Mühldorf und Altötting, und das (heute österreichische) Innviertel.

[7] “Gründung“ bedeutet nicht notwendig, dass dort vorher gar nichts existierte. In München z.B. gab es bereits eine (namensgebende) Mönchssiedlung, in Burghausen eine (ebenfalls namensgebende) Burg und einen Markt, und Straubings Besiedlungsgeschichte reicht zurück bis in die Römerzeit.

[8] Alle Landshuter Herzöge des 15. Jahrhunderts trugen den Namenszusatz „der Reiche“, u.a. weil die ertragreichen Salzbergwerke von Reichenhall zu Niederbaiern gehörten. Georgs spektakuläre „Landshuter Hochzeit“ mit einer polnischen Königstochter im Jahr 1475 wird heute alle vier Jahre im Rahmen eines Volksfestes nachgespielt.

[9] Eine Ausnahme gab es dann doch noch: Albrechts Söhne, Wilhelm und Ludwig, einigten sich 1514 nochmals auf die Teilung des Landes—allerdings unter Bedingung, dass der jüngere Ludwig nicht heiraten und so keine erbfähigen Kinder zeugen würde. Von 1537 bis 1543 ließ Ludwig die Landshuter Stadtresidenz erbauen, den ersten Renaissancepalast Deutschlands.  

[10]  Auch wurde das Wachstum wiederholt von Epidemieausbrüchen und anderen Katastrophen unterbrochen. Baierns politische Geschichte der frühen Neuzeit ist zu komplex, um sie innerhalb dieses Artikels zu darzustellen. Sehr grob verkürzt war das wiedervereinigte Baiern zunächst ein relativ unbedeutender Mittelstaat, der zudem in kostspielige Auseinandersetzungen um Reformation und Gegenreformation hineingezogen wurde. Zwei fähige und langlebige Herzöge—Maximilian I. (1597-1651) und sein Sohn Ferdinand Maria (1651-79)—konsoliderten dann den Staatshaushalt, gaben Baiern eine moderne, früh-absolutistische Verwaltung, und lenkten das Land geschickt durch den 30-jährigen Krieg. U.a. kam die Oberpfalz 1623 größtenteils zurück zu Baiern, und der Herzog erlangte die „Kurwürde“: er war einer von sieben (später 8 bzw. 9) Fürsten, die den deutschen König wählten. Die nachfolgenden Kurfürsten versuchten, die Führungsrolle der Habsburger in Deutschland anzugreifen—und scheiterten, was Baiern im frühen 18. Jahrhundert mehrfach an der Rand seiner Existenz brachte. Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts war dann erneut eine Phase der Konsolidierung, bevor die napoleonischen Kriege das moderne Bayern hervorbrachten.


Bildnachweise: wikimedia commons, bis auf "Einwohnerentwicklung ausgewählter Städte (eigene Arbeit)