Donnerstag, 29. Juli 2021

Bayern und Österreich


Zum bayerischen Selbstverständnis gehört die Nähe zu Österreich. Zumindest Altbayern betonen gerne, dass sie mit Österreichern mehr gemein h
ätten als mit den Preissn in Norden. Und auch Österreicher nehmen Bayern, zumindest wenn sie gnädig gestimmt sind, vom „Piefke“tum aus, einer abfälligen Bezeichnung für alles (Nord-)deutsche. Wieviel Gemeinsames gibt es zwischen Bayern und Österreich wirklich? Und wo liegen die Wurzeln der (Seelen-)Verwandtschaft? 

Sprache: Österreich ist bairischer als Bayern 

Das Offensichliche zuerst: die sprachliche Verwandschaft zwischen Bayern und Österreich ist nicht zu überhören. Mehr als die Hälfte der Bewohner des Freistaates leben im bairischen Sprachraum; die altbayerischen Regierungszbezirke Oberbayern, Niederbayern und Oberpfalz gehören ihm fast vollständig an (aber auch im Sechsämterland in Oberfranken z.B. wird überwiegend bairisch gesprochen). In Österreich sind es sogar über 95 Prozent der Bevölkerung. Mehr noch, in Altbayern wie in Österreich dominieren mittelbairische Dialekte. Sie werden in fast allen großen Städten gesprochen: in München ebenso wie in Wien, in Graz genauso wie in Regensburg, in Linz wie in Ingolstadt.

Münchner und Wiener etwa verstehen einander in der Regel problemlos. Einige Vokale sprechen sie anders aus: wo in Wien ein „Schpüi“ (Spiel) stattfindet ist es in München ein „Schpui“, und was in München „hoaßt“ heißt heißt in Wien „haaßt“. Auch reimt sich „Schpoat“ (Sport) auf „hoat“ (hart) nur in Wien (Reinhard Fendrich). Und es gibt natürlich lokalen Slang: „leiwand“ (großartig) ist das Leben in Wien, in München ist es eher „griabig“ (gemütlich). Aber das sind kleine Unterschiede. 

Größer ist die sprachliche Distanz der mittelbairischen Dialekte zum Nordbairischen der (nördlichen) Oberpfalz und zum Südbairischen Tirols und Kärntens—oder gar zum Ostfränkischen der fränkischen Regierungsbezirke oder dem Alemannischen Vorarlbergs. Aber solche Unterschiede sind ebenso groß innerhalb Bayerns und Österreichs wie zwischen ihnen.

Der bairische Sprachraum
Der bairische Sprachraum




















 ... das Ergebnis einer gemeinsamen, frühmittelalterlichen Wurzel.

Wenn man Geschichte vom Ausgangs- (und nicht vom End-)punkt betrachtet, dann macht es durchaus Sinn, von einer gemeinsamen bayerisch-österreichischen Geschichte zu sprechen. Sie beginnt mit dem frühmittelalterlichen Herzogtum Baiern und manifestiert sich heute in zwei Nachfolgestaaten: dem Freistaat Bayern und der Republik Österreich. 

Österreichs Ursprung ist der einer bairischen Kolonie. Mitte des 6. nachchristlichen Jahrhunderts tauchte das Stammesherzogtum Baiern aus dem Nebel der Völkerungswanderungszeit auf und belegte den Raum zwischen Donau, Alpen, Lech und Enns—bis heute wissen wir nicht genau, wo, wie und wann es sich geformt hat. In den darauffolgenden Jahrhunderten drangen bairische Siedler in benachbarte Gebiete vor—zunächst nach Süden und Norden, dann in mehreren Schüben nach Osten und Südosten, in vormals von Awaren und Slawen beherrschtes Gebiet.[1] Die Siedler errichteten sogenannte Grenzmarken: autonome Provinzen die von einem Markgrafen verwaltet wurden, den Baiernherzögen in Regensburg aber unterstellt blieben.

Die Grenze zwischen dem frühmittelalterlichen ’Altbaiern’—dem Gebiet des bairischen Stammesherzogtums um ca. 700, welches grob die heutigen altbayrischen Regierungsbezirke umfasste, aber auch Tirol, Salzburg und den Großteil Oberösterreichs—und den ‘Neubaiern’ in Niederösterreich, Kärnten und der Steiermark lässt sich heute noch auf Dialektkarten ablesen: siehe die blau gestrichelte Linie auf der Karte oben. 

Stammesherzogtum: Kern und Erweiterungen
Schon im 10. Jahrhundert—also vor über 1000 Jahren—aber begannen die Kolonisten sich abzusetzen. Zuerst erlangte Kärnten 976 Unabhängigkeit, unter Mithilfe des deutsch-sächsischen Kaisers Otto II, dem die bairische Machtkonzentration im Südosten des Reiches unheimlich geworden war. Der Ostmark—die auch "Ostarrichi" genannt wurde und in etwa dem heutigen Niederösterreich enstprach—standen die Baiernherzöge zwar noch fast 200 weitere Jahre vor, sie agierte aber zunehmend eigenständig und erreichte schließlich als Herzogtum Österreich 1156 ebenfalls Unabhängigkeit, mit Wien als Hauptstadt. Erneut stand einer deutscher Kaiser Pate bei der Geburt, diesmal ein Schwabe: Friedrich I. Barbarossa.

Ab dem späten Mittelalter: Österreich wächst Baiern über den Kopf

Von da an drehte sich die Expansionsrichtung um: Österreich vereinigte nicht nur die ehemaligen Grenzmarken, es verleibte sich auch schrittweise altbairische Gebiete ein. Linz etwa ging dem Herzogtum Baiern 1210 verloren. Ein besonderer Coup gelang den Habsburgern—sie regierten seit 1282 in Wien—1363 mit der Erwerbung Tirols. Überhaupt setzte sich die expandierende Habsburger-Großmacht meist gegenüber dem bairischen Herzogtum durch, auch weil letzteres häufig von internem Zwist geplagt wurde—zwischen 1255 und 1505 war es gar in mehrere Teil-Herzogtümer aufgeteilt. Gerade aus solchen Erbstreitigkeiten schlug Österreich immer wieder territorialen Gewinn. 

Innviertel
Eine letzte größere Erwerbung gelang Österreich 1779 mit dem Innviertel, einem ca. 90 Kilometer langen und 30 Kilometer breiten Steifen südwestlich von Passau. Um ein Haar wäre Baiern Ende des 18. Jahrhunderts sogar ganz an Österreich gefallen: denn nur zu gern hätte der in Brüssel aufgewachsene Kurfürst Karl Theodor das Angebot des Habsburger-Kaisers Joseph II. angenommen, Altbayern gegen die Österreichischen Niederlande einzutauschen (in etwa das heutige Belgien). Ein Machtwort Preußens verhinderte den Tausch.

Versuche Baierns, das Blatt zu wenden und Österreich aus altbairischem Gebiet herauszudrängen gab es zwar immer wieder, sie schlugen aber meist fehl. Den letzten Anlauf unternahmen Kurfürst Maximilian IV. (der Nachfolger Karl Theodors) und sein Minister Montgelas 1805, als sie mit Napoleons Hilfe Tirol annektierten. Die Tiroler aber sahen sich schon lange nicht mehr als Baiern und rebellierten unter Volksheld Andreas Hofer gegen die Fremdherrschaft. Nach der Niederlage Napoleons bestand Österreich erfolgreich auf Rückgabe, außerdem verleibte es sich Salzburg ein: seit dem Frühmittelalter Sitz des bairischen Erzbischofs und damit gewissermaßen die geistliche Hauptstadt des alten Baiern. Salzburg hatte 1328—während einer der vielen Schwächephasen des bairischen Herzogtums—Eigenständigkeit als Fürstbistum erlangt, und sich dann fast 500 Jahre lang als Pufferstaat zwischen Baiern und Österreich gehalten.

Anders als die meisten ihrer Vorgänger aber wussten Maximilian IV. und Montgelas sich zu helfen. Für die Verluste hielten sie sich in Franken und Schwaben schadlos—was den Charakter Baierns nachhaltig veränderte. Aus dem einstigen Stammesherzogtum wurde das Königreich ‘Bayern’, ein süddeutscher Territorialstaat mit sprachlich und religiös gemischter Bevölkerung.
 
Gemeinsames, aber auch viel Eigenes

Bei allen sprachlichen und historischen Gemeinsamkeiten zwischen Bayern und Österreich ist allerdings unverkennbar, dass sich in 900 Jahren eigenständiger Geschichte auch große Unterschiede  herausgebildet haben. Das Spätmittelalter, Reformation, Aufklärung und Absolutismus, das Zeitalter der Nationalstaaten, die industrielle Revolution und das 20. Jahrhundert—das meiste haben sie getrennt durchlebt und dabei eigene Traditionen geformt. 

Wiener Hofburg, Münchner Residenz
Am deutlichsten zeigt sich dies vielleicht an den Hauptstädten, München und Wien. Beide erlangten ihre heutige Bedeutung erst lange nach der Abspaltung Österreichs vom Stammesherzogtum. Und beide sind ihrem Selbstverständnis nach Residenzstädte: politischer und kultureller Mittelpunkt des jeweiligen Landes, in deren Glanz und Prestige monarchische wie republikanische Landesfürsten jahrhundertelang investiert haben. 

Aus der gemeinsamen  Wurzel sind in den vergangenen 900 Jahren gewissermaßen zwei separate Stämme gewachsen—die zwar sichtlich miteinander verwandt sind, sich aber auch nicht gleichen.


[1] Die Geschichte der bairischen Ost-Kolonisation ist ebenso faszinierend wie vielschichtig, und schwer in wenigen Sätzen zusammenzufassen. Eine Skizze:

Der Machtbereich des bairischen Stammesherzogtums erstreckte sich im 6.-8. Jahrhundert bis zur Region zwischen Traun und Enns im heutigen Oberösterreich. Einer weiteren Expansion nach Osten standen fast 250 Jahre lang die Awaren im Weg: ein aus Zentralasien stammendes Reitervolk, das ab 568 die pannonische Tiefebene inklusive des Wiener Beckens kontrollierte. Der Sieg Karl des Großen über die Awaren 796 löste einen ersten bairischen Siedlungssschub donaubabwärts aus (die Awaren verschwanden anschließend aus der Geschichte—praktisch spurlos).

Mit den Ungarneinfällen ab 899 erlitt Baierns Ostexpansion einen schweren Rückschlag: die neu gewonnenen Gebiete gingen wieder verloren. Ein zweiter Wendepunkt kam 955 mit dem Sieg des kaiserlichen Heeres Ottos des Großen über die Ungarn auf dem Lechfeld bei Augsburg. Die Magyaren zogen sich daraufhin nach Westungarn zurück, was bairischen Siedlern erneut erlaubte, sich entlang der Donau nach Osten auszubreiten—und diesmal dauerhaft. 976 belehnte Kaiser Otto II. die Babenberger mit der Markgrafschaft Ostarrichi: der Kernzelle des späteren Österreich.

In der Gegend südöstlich Baierns hatten sich im späten 6. Jahrhundert im Zuge der awarischen Expansion slawische Stämme niedergelassen: die awarischen Fürsten ('Chagane') setzten slawische Siedler oft gezielt ein, um ihren Herrschafsraum abzusichern. Um 600 enstand das slawische Fürstentum Karantien mit Herrschaftszentrum in der Nähe des heutigen Klagenfurt.

In den folgenden Jahrzehnten empfand Karantien die Awaren jedoch zunehmend als Bedrohung. Um das Jahr 740 bat Karantenfürst Borouth deshalb den Baiernherzog Odilo um Schutz—den jener auch gewährte, allerdings um den Preis der Anerkennung bairischer Oberherrschaft. Kurze Zeit später begann die bairische Besiedlung Karantiens, angeführt von christlichen Missionaren aus den Bistümern Regensburg, Freising, und—vor allem—Salzburg. Die Zuwanderung setzte sich auch fort nachdem Karl der Große 788 Baiern und Karantien dem Frankenreich angegliedert hatte. Der immer geringer werdende slawische Bevölkerungsanteil wurde schrittweise assimiliert: aus Karantien wurde Kärnten.

[2] Mit Ausnahme des 'Rupertiwinkels': Salzburgs Besitzungen links der Salzach wurden Bayern zugeschlagen, darunter Laufen (heute Landkreis Berchtesgadener Land) und Waging (Landkreis Traunstein). Benannt ist der Rupertiwinkel nach Salzburgs Stadtheiligem Rupert, der um 700 im Auftrag der bairischen Herzöge das Bistum Salzburg gründete. 


Bildnachweise: 
- 'Sprachen und Dialekte in Bayern und Österreich': eigene Arbeit
- 'Der bairische Sprachraum': Stifterhaus - stifterhaus.at/forschung/sprachforschung/dialekte-in-ooe/bairisch
- 'Stammesherzogtum: Kern und Erweiterungen': Maximilian Dörrbecker (wikimedia commons)
- 'Innviertel': unknown author (wikimedia commons)
- 'Wiener Hofburg': bwag (wikimedia commons)
- 'Münchner Residenz': MagentaGreen (wikimedia commons)

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