Sonntag, 27. Dezember 2020

Bayern: eine Schöpfung des 19. Jahrhunderts

Manche Bayern behaupten, im ältesten existierenden Staat Europas zu leben—und dies durchaus zurecht, denn das mittelalterliche Stammesherzogtum Baiern lässt sich bis ins 6. Jahrhundert zurückverfolgen. Der moderne Freistaat Bayern jedoch verdankt seine Gestalt drei Männern des frühen 19. Jahrhunderts: Napoleon Bonaparte (1769-1821), Maximilian Graf von Montgelas (1759-1838), und König Ludwig I. (1786-1868)

Drei Landesväter: ein Weltumwälzer, ein Taktierer und ein Romantiker

Napoleon
Napoleon zerschlug Deutschlands Machtgefüge und ordnete es neu. Wer sich ihm entgegenstellte wurde bestraft, wer half und Napoleon in Deutschland den Rücken freihielt, durfte mit Belohnung rechnen. Um kooperationswillige Landesfürsten vergüten zu können, löste Napoleon zwischen 1801 und 1810 unzählige kleinere Fürstentümer, Grafschaften, Hochstifte (d.h., Bistümer mit weltlicher Staatsgewalt) und freie Reichsstädte auf—Gebiete, die oft jahrhundertelang unabhänig gewesen waren.

Graf Montgelas, erster Minister des Kurfürstentums Baiern, manövrierte sein Land so geschickt durch diese Zeit, dass sich Baierns Staatsgebiet verdoppelte. 1805 schlug sich Montgelas auf die Seite Napoleons. Als Lohn kamen unter anderem die freien Reichsstädte Nürnberg, Augsburg und Regensburg zu Baiern, auch die Marktgrafschaften Ansbach und Bayreuth, sowie Tirol aus der Konkursmasse des besiegten Österreich und das Fürsterzbistum Salzburg.

Montgelas

Als sich 1813 jedoch Napoleons Niederlage abzeichnete, wechselte Montgelas kurz vor der entscheidenden Völkerschlacht von Leipzig die Seiten—gegen die Zusage, Baierns Gebietszuwächse behalten zu dürfen. Die österreichischen Gebiete musste Montgelas trotzdem zurückgeben, aber als ‚Entschädigung‘ erhielt Baiern 1814 Würzburg und Aschaffenburg.

Verglichen mit dem Kurfürstentum von 1800 umfasste das Königreich Baiern von 1815—Montgelas hatte seinem Souverän Maximilian auch die Königswürde verschafft—nicht nur große fränkische Gebiete (dazu gleich mehr), sondern auch die östlichen Regionen Schwabens, den hessisch geprägten Untermain um Aschaffenburg, und altbayerische Besitzungen, welche sich bis dahin dem Zugriff der Wittelsbacher entzogen hatten, wie Regensburg oder die Bistümer Passau und Freising. 

Wie nachhaltig Montgelas Bayern geprägt hat zeigt sich daran, dass 14 der 18 größten Städte des Freistaats heute Erwerbungen Montgelas‘ sind: Nürnberg, Augsburg, Regensburg, Würzburg, Fürth, Erlangen, Bamberg, Bayreuth, Aschaffenburg, Kempten, Neu-Ulm, Schweinfurt, Passau und Freising. Nur München, Ingolstadt, Landshut und Rosenheim gehörten auch 1800 schon zu Baiern.

Ludwig I.

Das Königreich, welches Ludwig I. 1825 von seinem Vater Maximilian erbte, war nach revolutionär-französischem Vorbild in Kreise eingeteilt, die Flussnamen trugen: es gab einen Ober- und einen Unterdonaukreis, einen Unter- und einen Obermainkreis, einen Isarkreis, einen Rezatkreis und einen Regenkreis (ferner einen Rheinkreis—die Pfalz). Dem Romantiker Ludwig gefiel das nicht. Er schnitt die Kreise neu zu und gab ihnen historisierende Namen: Ober- und Niederbayern, Oberpfalz, Ober- Mittel- und Unterfranken, und Bayerisch Schwaben.[1] Auch ersetzte Ludwig—der Griechenlandschwärmerei seiner Zeit ensprechend—das „i“ in Baiern durch ein „y“. Bayern war geboren.

Ludwigs unhistorische Schöpfungen

Tatsächlich waren Ludwigs Bezirke eher unhistorisch. Die Namen „Ober-“ und „Niederbayern“ etwa entlehnte er den Teilherzogtümern zu Zeiten der bayerischen Landesteilung im 13.-15.Jahrhundert: damals hatte es tatsächlich ein Oberbaiern-München und ein Niederbaiern-Landshut gegeben (zeitweilig auch ein Oberbaiern-Ingolstadt und ein Niederbaiern-Straubing). Ludwig grub diese Begriffe, welche 400 Jahre ungenutzt gewesen waren, wieder aus—beließ es aber bei den Namen. Hätte er die historischen Territorien nachbilden wollen hätte Niederbayern deutlich größer ausfallen müssen: zumindest die Landkreise Freising, Erding, Mühldorf, Altötting und Traunstein müssten heute niederbayrisch sein.

Noch zweifelhafter war Ludwigs Behandlung Frankens. Dank Montgelas‘ Geschick waren Bayern viele Territorien zugefallen, in denen ostfränkische Dialekte gesprochen wurden (siehe oben). Grob ensprachen sie dem „fränkischen Reichskreis“—Teil einer administrativen Ordnung, die 1806 mit dem alten deutschen Kaiserreich untergegangen war. Ludwig knüpfte aber nicht an den Reichskreis an, sondern an das Stammesherzogtum Franken des 9. und 10. Jahrhunderts—zusätzlich zu „König von Bayern“ verlieh er sich den Titel „Herzog von Franken“ (ausserdem „Herzog in Schwaben“). 

Herzogtum Franken um 900
Dieses mittelalterliche Franken hatte aber weiter westlich gelegenund unter anderem das heutige Hessen und die Pfalz umfaßt, nicht jedoch Nürnberg, Bamberg oder Erlangen. Und wo Ludwig bei Ober- und Niederbayern noch historische Begriffe wiederbelebt hatte, da erfand er die Unterteilung seines Frankens neu—mit Bezirksnamen, die sich nach der Lage am Main richteten: „Oberfranken“ am Oberlauf, „Unterfranken“ am Unterlauf, „Mittelfranken“—nun, gar nicht am Main. 

Ludwigs Bezirke fassten Dinge zusammen, die historisch und kulturell nicht zusammen gehörten. Mittelfranken etwa vereinte die Bürgerstadt Nürnberg mit der absolutistischen Markgrafschaft Ansbach; Oberfranken das katholische Bistum Bamberg mit der evangelischen Markgrafschaft Bayreuth. Und zur Hauptstadt der Oberfpalz—also der Wittelsbacher-Gebiete nördlich der Donau—machte Ludwig ausgerechnet Regensburg: Baierns alte Hauptstadt, die im13. Jahrhundert lieber freie Reichsstadt als Herzogsresidenz hatte sein wollen, und die Wittelsbacher hinausgeworfen hatte.

Ein Kunstprodukt setzt sich durch

Wie man über Ludwigs Schöpfungen auch lästern mag: Tatsache ist dass sie sich durchgesetzt haben. Ludwigs Bayern lebt; das alte, vor-napoleonische Baiern ist vergessen—entrückte, versunkene Geschichte. Wenn der Straubinger Barde Hannes Ringlstetter etwa sein Niederbayern besingt, dann verklärt er eine Heimat, die vor 200 Jahren so niemand kannte. Oder wenn der Würzburger Autor Bernd Eusemann die Unterschiede zwischen mittel-,unter- und oberfränkischem Humor erklärt: er bezieht sich nicht etwa auf Althergebrachtes, sondern auf die Schöpfungen Ludwig I. 

Ja selbst die Gegner Bayerns und Anhänger eines unabhängigen Bundeslands Franken sind unweigerlich Ludwigs Gedankenwelt verhaftet: ohne Ludwig I. gäbe es schliesslich kein Franken, zumindest nicht in seiner heutigen Form. Selbst den Frankenrechen—dem Wappen den Würzbuger Bischöfe entnommen— erwählte Ludwig einst zum Symbol Frankens. 

 


[1] Im 19. Jahrhundert kam noch die Pfalz dazu (vormals ‚Rheinkreis‘). Ludwig kehrte nicht zum alten Wittelsbacher-System der Rentämter zurück, von dem es 1800 fünf gegeben hatte: München, Burghausen, Landshut, Straubing, und Amberg.

Bildnachweise:
- 'Napoleon', 'Montgelas', 'Ludwig I.': wikimedia commons
- 'Bayerische Landesteilung 1382': Lencer (wikimedia commons)
- 'Fränkischer Reichskreis 1789': miqmak (wikimedia commons)
- 'Herzogtum Franken um 900', 'Freistaat Bayern': wikimedia commons

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