Ein historisches Rätsel—das vermutlich nie ganz gelöst werden kann—ist jenes des Ursprungs der Baiern. Im ganz frühen Mittelalter, um 550 nach Christus, sind sie plötzlich da, besiedeln den Landstrich zwischen Alpen und Donau, zwischen Lech und Enns (heute der Grenzfluß zwischen Ober- und Niederösterreich). Wie sind sie da nur hingekommen?
Baiern Mitte des 6. Jahrhunderts
Ungefähres bairisches Siedlungsgebiet um 550 nach Christus (mit den heutigen Städten und Grenzen) |
Wer die Nachbarn der Ur-Baiern im Süden und im Norden sind ist weniger klar. Die Alpentäler sind zunächst wohl noch von romanischen Gruppen besiedelt, Baiern breiten sich dort erst im 7. und 8. Jahrhundert aus (und manche Romanen leben dort bis heute, wie die Ladiner in Südtirol). Nördlich der Donau herrschten bis 531 die Thüringer, bis sie von den Franken besiegt wurden—wer das Land danach bewohnt hat ist nicht bekannt. Bairische Spuren finden sich in den heutigen Oberpfalz erst ab dem späten 7. Jahrhundert.
So präsentieren sich die Baiern erstmals der Weltgeschichte. Doch wo kamen sie her? Die Klärung der Frage gleicht einem Puzzlespiel, bei dem zwar viele Teile vorhanden sind und sich auch zusammensetzen lassen—andere, wichtige Teile aber fehlen. Die Formung eines Gesamtbildes erfordert deswegen ein Stück Interpretation,
Die Vorgeschichte
Bis 476 nach Christus gehörte das spätere bairische Siedlungsgebiet zum (west-)römischen Reich, genau zu den Provinzen Rätien—westlich des Inns—und Noricum—östlich. Die Kontrolle über das Voralpenland war essentiell für die Sicherheit Italiens, weshalb Rom in den Aufbau einer schlagkräftigen Zivil- und Militärverwaltung investierte. Ihren Höhepunkt erreichte die römische Macht im Voralpenland um das Jahr 200 nach Christus.
Rätien und westliches Noricum |
Im 5. Jahrhundert allerdings war die Autorität Roms nur noch ein Schatten ihres einstigen Glanzes. Zermürbt von wiederholten Germaneneinfällen hatte sich die romanisch-keltische Bevölkerung in befestigte Städte zurückgezogen, wie etwa Regensburg (Castra Regina), Passau (Batava) oder Salzburg (Iovanum). Das Land war dünn besiedelt, von den einst zahlreichen römischen Landgütern (villa rustica) waren nur noch wenige übrig. Auch die römische Armee besaß nur noch einen Bruchteil ihrer einstigen Stärke und bestand zu einem großen Teil aus germanischen Söldern.
488 schließlich befahl Odoaker—ein römischer Offizier germanischer Abstammung, der 476 den letzten weströmischen Kaiser abgesetzt hatte—das Voralpenland aufzugeben, und ordnete den Abzug der römischen Provinzialtruppen nach Italien an. Wieviel Militär tatsächlich abzog ist unklar, die Provinz Noricum verließen wahrscheinlich mehr Soldaten als das bereits arg vernachlässigte Rätien. Ebenso unklar ist, wieviele Zivilisten den Truppen folgten—bestimmt nicht alle, denn eine romanische Rest-Bevölkerung läßt sich in Baiern bis mindestens ins 10. Jahrhundert nachweisen.
Von dem Befehl Odoakers an wissen wir 70 Jahre lang: fast nichts. Es gibt keine historischen Aufzeichnungen oder anderweitigen schriftlichen Zeugnisse. Die bescheidenen archäologischen Funde sind schwer zuzuordnen und lassen Spielraum für Interpretation.
Mittel- und Westeuropa zu Zeiten Theoderichs (grün: Frankenreich) |
15 Jahre später erwähnt ein in Konstantinopel
ansässiger Schriftsteller (vermutlich) ostgotischer Herkunft—Jordanes—dann erstmals die
Baiovaren; beiläufig und wie selbstverständlich als östliche Nachbarn der
Sueben (=Alemannen).
Der Mythos von der großen Zuwanderung
Dieses plötzliche Auftreten am Ende der Völkerwanderungszeit, während der viele Stämme und Völker ihren Lebensraum wechselten, nährte einst den Verdacht, die Baiern müssten zugewandert sein—eine These die insbesondere im 19. Jahrhundert populär war. Der Name „Bajuwaren“ erhärtete den Verdacht: er läßt sich lesen als „Leute aus Baja“, und Baja kann—mit etwas Phantasie—als „Böhmen“ gedeutet werden. Die sprachlichen Parallelen machten insbesondere die Bojer zu Kandidaten, Vorgängervolk der Baiern gewesen zu sein: ein keltischer Stamm, der um Christi Geburt an verschiedenen Orten in Mitteleuropa gelebt hatte, dabei sowohl Römern als auch antiken germanischen Stämmen (Kimbern, Teutonen, Ambronen) einiges Kopfzerbrechen bereitet hatte, und möglicherweise Bajas Namensgeber gewesen war.
Siedlungsraum der Boier |
Zwischen dem Verschwinden der Boier und dem Auftreten der Baiern liegen allerdings mehr als 500 Jahre—zu lange für eine plausible historische Verbindung. Außerdem waren die frühen Baiern eindeutig Germanen, nicht Kelten. Als Alternativ-Ahnen kamen die Markomannen in Betracht: ein germanischer Stamm, in dem der böhmische Teil der Bojer einst aufgegangen war. Auch diese These enthält jedoch ihre Ungereimtheiten, denn die meisten Markomannen zogen bereits um das Jahr 400 aus Böhmen ab, und in Richtung Pannonien (Ungarn), nicht Rätien.
Den Garaus bereitete den Zuwanderungsthesen—zumindest in Kreisen der Wissenschaft—aber der archäologische Befund. Mehrere Friedhöfe aus dem 5. bis 7. Jahrhundert, welche in den vergangenen Jahrzehnten untersucht worden sind, deuten auf Kontinuität hin, nicht auf einen plötzlichen Bruch, welchen ein Austausch der Bevölkerung hätte verursachen müsste. Zwar gab es fraglos Zuwanderung in den späteren bairischen Siedlungsraum, überwiegend—wenn auch nicht nur—von Germanen (manche Grabbeilagen und DNA-Analysen deuten auf osteuropäische oder sogar zentralasiatische Verbindungen). Doch diese Zuwanderung fand kontinuierlich und über einen langen Zeitraum statt: sie begann bereits zur Römerzeit, und setzte sich ohne sonderliche Beschleunigung in der aufzeichnungsfreien Periode zwischen 488 und 551 fort.
Baiern und Alemannen
Ein weiteres Puzzleteil ist die Sprache der frühen Baiern: diese ist bis ins 12. Jahrhundert hinein nämlich praktisch nicht zu unterscheiden von der Sprache ihrer westlichen Nachbarn, den Alemannen. Waren die Baiern also lediglich eine Abspaltung der Alemannen?
Eine solche Frage basiert auf einem Misverständnis. Man darf sich die Baiern des 6. Jahrhunderts (noch) nicht als „Stamm“ im heutigen Wortsinn vorzustellen: als eine klar identifizierbare Bevölkerungsgruppe, die gekennzeichnet ist durch eigene Traditionen und, vor allem, eine eigene Art zu sprechen. Diese Form der Stammesbildung fand erst später statt, im Hoch- und Spätmittelalter, als Menschen über mehrere Generationen am gleichen Ort seßhaft waren und regionale Identitäten formen konnten.
In der Völkerwanderungszeit hingegen war „Stamm“ häufig ein politischer mehr als ein ethnischer Begriff. Stämme zerfielen, gingen in anderen Stämmen auf und formierten sich neu, durch den Zusammenschluss verschiedener Gruppen unter einer gemeinsamen Führung. Die Franken etwa entstanden auf diese Weise im dritten nachchristlichen Jahrhundert im Nordwesten Europas; ebenso zur etwa gleichen Zeit die Alemannen weiter im Süden. „Alamannen“ bedeutete ursprünglich nichts weiter als „alle Männer“: eben jene Männer, die sich an den Unternehmungen des neuen Stammes beteiligten.
Auch das Entstehen Baierns war zunächst wohl ein politischer Akt; die Frage ist, wann und weshalb er stattfand.
Ein Versuch, das Puzzle zu vervollständigen
Theoderich der Große |
- Baierns frühmittelalterliche Bevölkerung formte sich über Jahrhunderte (siehe oben), durch den schrittweisen Zuzug germanischer Siedler und den Rückgang der—bis ins 4. nachchristliche Jahrhundert bestimmenden—romanisch-keltischen Bevölkerung. Zum Zeitpunkt des ersten Auftretens der Baiern war ihre Kultur jener der benachbarten Alemannen sehr ähnlich. Ein Grund hierfür liegt vermutlich in der Regierungszeit des Ostgotenkönigs Theoderich des Großen im frühen 6. Jahrhundert, als jener den Alemannen Rätien als Rückzugsgebiet anbot. Theoderich kann somit als ein Pate Baierns gelten.
Politisch ist Baiern wahrscheinlich eine Schöpfung der Franken. 536/37 fiel jenen die Gegend—bis dahin ostgotische Provinz—kampflos zu, sie war aber zu weit vom fränkischen Siedlungsgebiet am Niederrhein entfernt, um direkt die Kontrolle zu übernehmen. Stattdessen installierten die Franken—es muss wohl der austrasische Teilkönig Theudebert I. gewesen sein—einen abhängigen Herzog aus fränkischer Familie, der die Neuerwerbung verwalten sollte. Theudebert wäre damit der zweite Baiern-Pate.Die Bajuwaren als Vasallen der Franken - Unklar bleibt, warum das neue politische Gebilde den Namen „Baiern“ bekam. Vielleicht versuchten die neuen Herrscher, mit dem Verweis auf ein antikes Land Baja einen Schöpfungsmythos zu begründen, der sie von Alemannen, Langobarden, Thüringern und anderen Nachbarn unterschied. Wem auch immer dieser Mythos eingefallen ist: er wäre der dritte Pate (ihm käme dann auch das Verdienst zu, Generationen von Bavarologen in die Irre geführt zu haben—die viel mehr in den Namen hineinlasen).
- Mit (oder kurz vor) diesem ersten Auftreten der Baiovaren endete nicht etwa das Ausbilden einer bairischen Identität. Zutrifft das genaue Gegenteil: der Prozess hatte gerade erst begonnen. Zu den Baiern bzw. Bayern, wie wir sie heute kennen, sollten sich die Baiovaren erst in den darauffolgenden Jahrhunderten entwickeln.