Mittwoch, 4. Januar 2023

Bairisch und Hochdeutsch

Rund 16 Millionen Menschen leben im bairischen Sprachgebiet7 Millionen im Freistaat Bayern, 9 Millionen in Österreich und in Südtirol. Wie, wann und wo ist das Bairische entstanden? Was erklärt seine verschiedenen Varianten? Und wie verhält sich Bairisch zum ‘Hochdeutschen’—der deutschen Standardsprache? Eine Tour de Force durch die wichtigsten Zusammenhänge.

Wie so vieles in der deutschen Vor- und Frühgeschichte liegen auch die Ursprünge der deutschen Sprache im Dunkeln. Vorläufer der Deutschen waren die Germanen, von denen wir bereits aus der Antike wissen—allerdings betrachtet durch die Linse der Römer, so dass wir über ihre Sprache nur bruchstückhafte Erkenntnisse besitzen. Die Völkerwanderung beendete die Vorherrschaft Roms und mischte die Verhältnisse in Mitteleuropa neu.

Frühbajuwarische Fundstellen
An ihrem Ende war Deutschland von verschiedenen Stämmen besiedelt. Manche waren aus der Antike bereits bekannt, wie die Alemannen, die Franken oder die Sachsen. Andere waren vorher nicht in Erscheinung getreten, darunter die Bajuwaren: ab Mitte des 6. Jahrhunderts besiedelten sie die Gegend zwischen Donau und Alpen, Lech und Enns (im heutigen Oberösterreich). ‘

Bairisch sprachen die ersten Bajuwaren allerdings noch nicht—dafür waren die Dialekte am Anfang des Frühmittelalters zu wenig ausgebildet. Die wenigen schriftlichen Zeugnisse zeigen etwa kaum einen Unterschied zwischen bajuwarischen Dokumenten und jenen der benachbarten Alemannen und Langobarden. 

Das Frühmittelalter: Geburtsstunde der deutschen Sprache—und ihrer Dialekte

Dialekte entwickelten sich erst in den Jahrhunderten nach der Völkerwanderung. Mitteleuropa war unter der Vorherrschaft der Franken halbwegs zur Ruhe gekommen, die Menschen konnten seßhaft werden, Ackerbau und Handwerk betreiben. Austausch mit entfernter lebenden Gruppen wurde selten, die meiste Kommunikation fand innerhalb des gleichen Herrschaftsbereichs statt. Unter diesen Bedingungen konnten Sprachneuerungen lokal Fuß fassen und sich regional verbreiten. Der Lech etwa, zunächst lediglich eine politische Demarkationslinie, wurde zunehmend zur Sprachgrenze zwischen den bairischen und den alemannisch-schwäbischen Dialekten. Er ist es bis heute gelieben.

Viele frühmittelalterliche Sprachänderungen lassen sich unter einen gemeinsamen Begriff zusammenfassen: die zweite germanische Lautverschiebung. Zwischen dem 6. und 9. Jahrhundert (die genaue Datierung ist umstritten) veränderte sich in vielen Gebieten “th” zu “d”(thenkenàdenken). Aus“p” wurde “f” oder “pf” (AppelàApfel); aus “t” wurde “s” oder “z” (WateràWasser), und aus “k” wurde “ch” (makenàmachen)—dies sind nur einige Beispiele. Diese Veränderungen machten aus “Germanisch” erst “Deutsch”: es entstanden Sprachmerkmale, die Deutsch von anderen germanischen Sprachen unterscheiden.[1]

Niederdeutsch und Hochdeutsch
Zugleich waren nicht alle Gegenden gleichermassen von der Lautverschiebung betroffen. Je weiter im Süden ein Gebiet lag, desto stärker führte es in der Regel die Sprachänderungen durch. Dies gliederte Deutschland in Dialekträume. In Norddeutschland entstand ein niederdeutscher Raum, in dem die Lautverschiebung kaum Fuß fasste—die Sprache blieb in vielem den benachbarten Niederfränkisch (Basis der niederländischen Standardsprache), Friesisch und Englisch ähnlich.[2]

Im hochdeutschen Sprachraum—so benannt nach den höher gelegenen Regionen Deutschlands—hingegen änderte sich die Sprache stärker. Hochdeutsch zerfiel noch einmal in Mittel- und Oberdeutsch. Nur die oberdeutschen Dialekte führten die Lautverschiebung nahezu vollständig durch: das (Ost-) Fränkische, das Schwäbisch-Alemannische, und das Bairische.[3]

Die Dialekträume bilden, zumindest grob, die politischen Verhältnisse des Hochmittelalters ab

Im Hochmittelalter, also ungefähr ab dem Jahr 1000, waren die deutschen Dialekträume so ausgebildet, wie sie—im Großen und Ganzen—heute noch bestehen. Ihre Grenzen decken sich auch am besten mit den politischen Verhältnissen des Hochmittelalters, zumindest ist die Übereinstimmung größer als mit jeder anderen Periode. Bairisch ist ein gutes Beispiel. Seine heutige Verbreitung entspricht grob der Ausdehnung des bairischen Stammesherzogtums im späten 10. Jahrhundert, als Tirol, Kärnten und die bairische Ostmark noch unter der Oberherrschaft der Baiernherzöge in Regensburg standen.

Bairische ("Boarische") Dialektvarianten
Mehr noch: auch in den Dialektvarianten spiegelt sich mittelalterliche Geschichte. Der bairische Hauptdialekt ist das Mittelbairische, manchmal auch Donaubairisch genannt, da es im Donaubecken vom Lech bis zur Leitha (österreichisch-ungarischer Grenzfluss) gesprochen wird. Wien und München zählen beide zum mittelbairischen Sprachgebiet, es ist der Dialekt von mehr als 80 Prozent der Bairisch-Sprecher. Kulturprägend ist Mittelbairisch insbesondere durch seine Präsenz in den Städten: selbst Regensburg oder Graz—die eher im nord- bzw. südbairischen Dialektraum liegen—bilden von jeher mittelbairische Sprachinseln. 

Mittelbairisch zerfällt in eine westliche und in eine östliche Variante. Westliches Mittelbairisch wird in Ober- und Niederbayern gesprochen, traditionell auch in Salzburg und in Teilen Oberösterreichs. Dies deckt sich mit dem Kerngebiet des bairischen Herzogtums im 6. und 7. Jahrhundert. Sprachwissenschaftler sprechen deshalb auch von ‘Altbairisch’.[4]  

Östliches Mittelbairisch hingegen ist der Dialekt der ‘Neubaiern’, also jener Kolonisten, die im 10. Jahrhundert nach Ende der Magyareneinfälle die Donau hinunterzogen und im Wiener Becken die Ostmark errichteten—die Kernzelle des späteren Österreich.

Nord- und Südbairisch sind Randdialekte, die sich in entlegeneren Gebieten entwickelten, auf welche die Baiernherzöge oft nur unzureichend Zugriff hatten. Nordbairisch entstand im mittelalterlichen Nordgau, aus dem später die Oberpfalz hervorging. Es ist inbesondere für seine sogenannten ‘gestürzten Diphtonge’ bekannt: Bruder ist ‘Brouda’ statt ‘Bruada’ im Mittelbairischen; Brief ist ‘Brejf’ staff ‘Briaf’.

Südbairisch hat zwei Stammländer: Kärnten und Tirol, beides vormalige Grenzmarken, die im 10. bzw. 12. Jahrhundert von den Baiernherzögen unabhängig wurden. Nord- wie Südbairisch sind konservative Dialektformen: viele ihre Charakteristiken waren einst auch im Mittelbairischen verbreitet, kamen dort aber außer Gebrauch. Ein Beispiel sind die südbairischen ‘Affrikate’, d.h. die Verschiebung von “k” zu “kch”. Ein Kind ist auf Südbairisch ein ‘Kchind’, eine Kuh eine ‘Kchua’.

Nürnberg: einst bairisch, heute fränkisch

Soweit die historischen Grundzüge—von denen es viele Ausnahmen gibt, denn die Dialekträume entwickelten sich freilich auch nach dem Hochmittelalter weiter. Eine aus bayerischer Sicht besonders wichtige Ausnahme ist Nürnberg. Heute ist Nürnberg die Frankenmetropole des Freistaats, eine Art fränkisch-lutherischer Gegenpol zum altbayerisch-katholischen München.

Nürnberg im bairischen Nordgau
Dies war nicht immer so. Im Hochmittelalter gehörte der Nürnberger Raum zum Nordgau, seine Ur-Bevölkerung sprach Nordbairisch. Fränkischer Einfluß machte sich erst im 12. Jahrhundert bemerkbar, als die Staufer Nürnberg zum Königshof ausbauten. Dies zog Zuwanderer aus den benachbarten ostfränkischen Gebieten an, schrittweise formte sich ein Mischdialekt. Noch in der Renaissance dominierten aber die nordbairischen Elemente—Albrecht Dürer, der wohl berühmteste Nürnberger, sprach eher bairisch als fränkisch.

Größtenteils 'verfränkelt' ist Nürnberg erst in den vergangenen 200 Jahren. Heute finden sich im Stadtdialekt nur noch Spuren des nordbairischen Fundaments—wie etwa ‘Brouda’: so heißt der Bruder auch in Nürnberg, und nicht ‘Bruuda’ wie in den meisten Teilen Frankens.

Salzburg verwienert, Wien und München verwässern

Eine noch jüngere Entwicklung ist das Verschieben der Sprachgrenze zwischen West- und Ostmittelbairisch in Richtung Westen. Noch vor 70 Jahren lief die Grenze quer durch Österreich. Seitdem mischt sich insbesondere in den Großstädten wie Salzburg immer stärker ein Wiener Tonfall in den altbairischen Grunddialekt. Die meisten Salzburger zählen inzwischen ‘aans, zwaa, drei’, und nicht ‘oans, zwoa, drei’ wie im benachbarten Oberbayern—oder auch im Flachgau, der ländlichen Gegend nördlich Salzburgs. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis sich die Dialektgrenze ganz an die deutsch-österreichische Staatsgrenze schieben wird. Sie wird dann die heutigen politischen Verhältnisse widerspiegeln, und nicht mehr jene des Hochmittelalters.

In Wien wiederum gibt es immer weniger ‘echte’ Dialektsprecher. Stattdessen dominiert dort eine wienerisch lediglich angehauchte Version des Standarddeutschen. Eine treibende Kraft hinter diesem Wandel ist der österreichische Rundfunk, welcher dem österreichischen Hochdeutsch zu einer gewissen Dominanz verholfen hat  (siehe unten). Eine ähnliche Entwicklung gibt es in München, nur dass der münchner Dialekt vom bundesdeutschen Hochdeutsch verdrängt wird.

Was ist eigentlich ‘Hochdeutsch’?

Minnesang

Womit wir beim ‘Hochdeutschen’ sind—und damit bei einem häufig misverstandenen Begriff. In einer Verwendung ist er hier bereits vorgekommen: als Sammelname für alle mittel- und oberdeutschen Dialekte, zu denen auch das Bairische zählt. Gebräuchlicher aber ist eine zweite Verwendung: Hochdeutsch als “Hochsprache”, das “richtige” Deutsch, das Deutsch der Gebildeten. Dabei hält sich hartnäckig das Gerücht, das“‘reine“ Hochdeutsch komme aus der Gegend um Hannover—also aus dem niederdeutschen (!) Sprachgebiet.

Wie passt das zusammen? Um Verwirrung vorzubeugen ersetzen wir die ‘Hochsprachen‘-Verwendung durch ein anderes Wort: Standarddeutsch. D.h. ein Deutsch das allen Deutschsprechern als Maßstab und als überregionale Verkehrssprache dient.

In der deutschen Sprachgeschichte hat es zweimal eine Tendenz zur Herausbildung einer solchen Standardsprache gegeben.[5] Das erste mal war im Hochmittelalter zur Zeit der Staufer, ungefähr von 1150 bis 1250, als an den Fürstenhöfen eine kunstvolle Dichtung florierte: der Minnesang. Die Minnesänger schrieben in einer relativ einheitlichen ostfränkisch-schwäbischen Mischsprache; auch Dichter, die aus anderen Dialektregionen kamen. Mit dem Machtverlust der Staufer endete die Kultur, welche den Minnesang hervorbegracht hatte, und damit auch der erste Versuch der Sprachenstandardisierung.

Vater der deutschen Hochsprache: Martin Luther

Die Lutherbibel
Der zweite—und diesmal dauerhaft erfolgreiche—Versuch ist vor allem mit einem Namen verbunden: Martin Luther. Luther übersetzte zwischen 1522 und 1545 die Bibel ins Deutsche. Sprachlich orientierte er sich am obersächsisch-thüringischen Dialekt seiner Heimat, den Luther jedoch bewusst anpasste, um den Text auch für Bewohner anderer Gegenden verständlich zu machen.

In den protestantischen Regionen Deutschlands verbreitete sich die Lutherbibel rasant, und Luthers Schreibweise wurde schnell zum Standard—auch in Norddeutschland, wo man völlig andere Dialekte sprach. Tatsächlich war das niederdeutsche Platt vom Lutherdeutsch so weit entfernt, dass Norddeutsche die Sprache gewissermaßen neu lernen mußten. Zum ihrem Sprechstandard wurde so ein norddeutsch ausgesprochenes Obersächsisch; es verdrängte in den folgenden Jahrhunderten immer mehr den lokalen Dialekt. Heute gibt es nur in Schleswig Holstein noch eine größere Zahl von Plattdeutsch-Sprechern.

Der Weg des Südens zum Lutherdeutsch

In Süddeutschland und in Österreich tat man sich mit dem Lutherdeutsch an sich weniger schwer, schließlich basierte es auf einem verwandten hochdeutschen Dialekt. Die politische und religiösen Eliten aber—insbesondere die Orden der Jesuiten, Benediktiner und Augustiner—wehrten sich vehement gegen die Verbreitung des ‘protestantischen’ Deutsch in katholischen Landen. Um dies zu verhindern unternahmen sie mehrere Versuche, eine eigene oberdeutsche Schreibsprache zu etablieren.

Maria Theresia
Der Konflikt schwelte über 200 Jahre und wurde von beiden Seiten mit großer Leidenschaft geführt. Entschieden wurde er (vor allem) von zwei Faktoren. Zum einen erklärte ausgerechnet Kaiserin Maria Theresia 1774 den Unterricht in Lutherdeutsch für verbindlich an Österreichs Schulen, in der vom Leipziger Sprachforscher Johann Gottlieb Gottsched kodifizierten Form. Nach der Niederlage Österreichs im siebenjährigen Krieg (1756-63) konnte und wollte sie sich den Sprachenstreit nicht länger leisten. Andere katholische Länder wie das Kurfürstentum Baiern oder das Fürsterzbistum Salzburg zogen bald nach. 

Zum anderen schrieben die Dichter der Aufklärung und der einsetzenden Klassik—wie Lessing, Wieland oder Goethe—in luther-gottschedschem Deutsch. Das Prestige dieser Literatur war so hoch, dass auch das Bildungsbürgertum im Süden ihre Sprache übernahm und verbreitete. Seit dem späten 18. Jahrhundert ist der Status des luther-gottschedschen Deutsch als Sprachstandard unstrittig

Varietät(ch)en der Standardsprache

Oder ist er das? Standarddeutsch gilt offiziell als ‘polyzentrische Sprache‘, mit Verweis auf sogenannte ‘Varietäten‘: bundesdeutsches, österreichisches und schweizer Hochdeutsch.

Konrad Duden
Diese Varietäten sind recht neue Schöpfungen. Ihren Ursprung haben sie in Vereinheitlichungsbestrebungen nach Gründung des Deutschen Reiches, insbesondere durch das Rechtschreibwörterbuch von Konrad Duden (1880), das zugleich den deutschen Wortschatz normierte, und das Aussprachewörterbuch von Theodor Siebs (1898), welches ursprünglich die Artikulation an deutschsprachigen Theaterbühnen zu regulieren suchte. Duden und Siebs waren beides Norddeutsche und orientierten sich an norddeutschen Gepflogenheiten: seit Siebs gilt zum Beispiel „Könich“ als die korrekte Aussprache von „König“. 

Im oberdeutschen Sprachraum stießen diese Regelwerke auf Kritik. Duden, Siebs und ihre Nachfolger reagierten, indem sie Ausnahmen gestatteten. Diese orientierten sich aber nicht an den Dialekten—was sprachsystematisch am meisten Sinn gemacht hätte—sondern, ganz im Geist der Zeit, an den Nationalstaaten. Merkmale des Bairischen wurden für Österreich zugelassen aber nicht für Bayern, Besonderheiten des Schwäbisch-Alemannischen für die Schweiz aber nicht für Baden oder Württemberg.

Bestimmte Ausdrücke und Wörter gelten seitdem als 'Austrizismen' bzw. 'Helvetismen'. Festgehalten sind sie im österreichischen Wörterbuch—das seit 1950 vom österreichischen Bildungsministerium herausgegeben wird—und im schweizer Duden. Austrizismen sind dabei oft umgangssprachlich in (Alt-)bayern auch verbreitet, wie “das geht sich aus” (das klappt) oder “Du gehst mir ab” (ich vermisse Dich); als Standardsprache gelten sie aber nur in Österreich. Insgesamt sind die Abweichungen zwischen den Varietäten gering, denn alle beruhen auf dem Obersächsisch von Luther und Gottsched. 

Unterschiede gibt es beim Status des Standarddeutschen. In Österreich wird es oft parallel zum Dialekt gesprochen, ähnlich wie in Süddeutschland—und im Gegensatz zu Norddeutschland, wo das Standarddeutsche den Dialekt weitgehend verdrängt hat (siehe oben). Wieder anders liegen die Verhältnisse in der Schweiz: hier dominiert der Dialekt den Sprachgebrauch. Standarddeutsch, auch in der schweizer Varietät, empfinden viele Schweizer als Quasi-Fremdsprache.

Ein Sprach-Standardisierer

Als Aussprachenorm für das österreichische Standardeutsch hat sich eine an Siebs orientierte Sprechweise durchgesetzt, die angereichert ist durch einen moderaten wiener Zungenschlag: dunklere Vokale, weichere Konsonanten. Gepflegt wird diese Norm insbesondere vom ORF. Dies macht österreichische Moderatoren nicht nur gut verständlich, sie klingen auch unverschämt charmant (zumindest für meine Ohren)—im Vergleich zu ihren mitunter leicht unterkühlt wirkenden bundesdeutschen Gegenparts. 

Zusammenfassung

Dies ist ein langer Artikel, deswegen noch einmal die wichtigsten Punkte im Überblick.

·       Die deutsche Sprache und die deutschen Dialekte bildeten sich im Frühmittelalter

·       Die Grenzen der heutigen Dialekträume bilden grob die hochmittelalterlichen politischen Verhältnisse ab. Bairisch ist der Dialekt des mittelalterlichen Stammesherzogtum Baiern, das Teile des modernen Freistaates Bayern und der heutigen Republik Österreich umfaßte. Auch Variationen des Bairischen reflektieren mittelalterliche Abgrenzungen.

·       “Hochdeutsch” bezeichnete ursprünglich die Sprache der höher gelegenen Gegenden Deutschlands, Bayern eingeschlossen. Der Gegenbegriff ist Niederdeutsch.

·       Aus einem hochdeutschen Dialekt—Obersächsisch—entwickelte sich in der frühen Neuzeit die deutsche Standardsprache, Martin Luthers Bibelübersetzung bereitete die Initialzündung. Standardeutsch dient heute überall im deutschen Sprachraum als Verkehrssprache, mit nur geringfügigen Variationen.

·       Im weiten Teilen Norddeutschlands hat Standarddeutsch die lokalen, niederdeutschen Dialekte verdrängt und ersetzt—was den Fehlschluss provoziert, “Hochdeutsch” dem Norden zuzuordnen. Aus dem Norden kommt Hochdeutsch gerade nicht.

·       Anders als im Norden werden in Süddeutschland und Österreich Standardsprache und Dialekt oft parallel gesprochen. In der Schweiz hingegen dominiert der Dialekt den Sprachgebrauch.


[1] Die erste germanische Lautverschiebung fand in vorchristlicher Zeit statt und markiert die Abtrennung des Germanischen von anderen indogermanischen Sprachen.

[2] Es war keineswegs vorgezeichnet, dass Niederdeutsch heute mit Oberdeutsch einen gemeinsamen Sprachraum bildet und vom Niederfränkischen durch einen Hochsprachengrenze abgetrennt ist. Die Niederlande lösten sich im 16. und 17. Jahrhundert aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und entwickelten ihre eigene Standardsprache; ein Prozess, der parallel zur Verbreitung des Lutherdeutschen in Norddeutschland stattfand. D.h. die heutige Hochsprachengrenze zwischen Niederländisch und Deutsch reflektiert politische mehr als linguistische Entwicklungen.

[3] Dies sind zugleich die drei Hauptdialekte des Freistaates Bayern. Während nur noch ein Teil der Bevölkerung bairische Dialekte spricht, liegt fast der gesamte Freistaat weiterhin im oberdeutschen Sprachraum. Die wichtigste Ausnahme ist die Gegend um Aschaffenburg, wo die Sprache bereits hessisch bzw. rheinfränkisch gefärbt ist. Rheinfränkisch zählt zum Mitteldeutschen.

[4] Altbairisch mit “i”—altbayerisch mit “y” verweist auf die modernen Regierungsbezirke Oberbayern, Niederbayern und Oberpfalz, in Abgrenzung zu den fränkischen Bezirken und zu Bayerisch Schwaben.

[5] Darüber hinaus gab es regionale Bestrebungen zur Harmonisierung der Schriftsprache. Ein Beispiel ist die mittelniederdeutsche Sprache des 13.-17. Jahrhunderts, welche insbesondere der Hanse als Verkehrssprache diente. Sie wurde im 17. Jahrhundert vom Lutherdeutsch verdrängt.

Der Artikel stützt sich auf eine große Zahl von Quellen, die wichtigsten sind der DTV-Atlas zur deutschen Sprache und der kleine bayerische Sprachatlas. Sehr zum empfehlen ist auch 'Hubers Bairische Wortkunde'.

Bildnachweise (alle via Wikimedia Commons):

- 'Frühbajuwarische Fundstellen': El bes, CC BY 3.0

- 'Niederdeutsch und Hochdeutsch': basierend auf Vlaemink, CC BY-SA 4.0

- 'Bairische ("Boarische") Dialektvarianten': Mucalexx, copyrighted free use

- 'Nürnberg im bairischen Nordgau', Willi P, CC BY-SA 4.0

- 'Minnesang': Master of the Codex Manesse, public domain

- 'Die Lutherbibel': Lucas Cranach der Jüngere, public domain

- 'Maria Theresia': Jean-Étienne Liotard, public domain

- 'Konrad Duden': unknown, public domain

- 'Ein Sprach-Standardisierer': ORF, public domain

Montag, 27. Dezember 2021

Woher kamen sie nur? Das Rätsel der bairischen Herkunft

Ein historisches Rätsel—das vermutlich nie ganz gelöst werden kann—ist jenes des Ursprungs der Baiern. Im ganz frühen Mittelalter, um 550 nach Christus, sind sie plötzlich da, besiedeln den Landstrich zwischen Alpen und Donau, zwischen Lech und Enns (heute der Grenzfluß zwischen Ober- und Niederösterreich). Wie sind sie da nur hingekommen?

Baiern Mitte des 6. Jahrhunderts

Ungefähres bairisches Siedlungsgebiet um 550 nach
Christus (mit den heutigen St
ädten und Grenzen)
Westlich der Baiern leben die Alemannen unter der Oberherrschaft
 der mächtigen Franken: beides germanische Stämme die— im Gegensatz zu den Baiern—aus der Spätantike wohlbekannt sind. Nachbarn im Osten—also im heutigen Niederösterreich und der angrenzenden ungarischen Tiefebene—sind zunächst die Langobarden, ein weiterer germanischer Stamm, der 568 nach Italien abzieht (und dort allmählich in der lokalen Bevölkerung aufgeht). Ersetzt werden sie durch die Awaren, ein aus Zentralasien stammendes Reitervolk und ein eher ungemütlicher Nachbar, der einer bairischen Expansion nach Osten jahrhundertelang im Weg steht.

Wer die Nachbarn der Ur-Baiern im Süden und im Norden sind ist weniger klar. Die Alpentäler sind zunächst wohl noch von romanischen Gruppen besiedelt, Baiern breiten sich dort erst im 7. und 8. Jahrhundert aus (und manche Romanen leben dort bis heute, wie die Ladiner in Südtirol). Nördlich der Donau herrschten bis 531 die Thüringer, bis sie von den Franken besiegt wurden—wer das Land danach bewohnt hat ist nicht bekannt. Bairische Spuren finden sich in den heutigen Oberpfalz erst ab dem späten 7. Jahrhundert.

Der Baiernherzog residiert in der alten römischen Legionsstadt Regensburg, also im äußersten Norden seines Herrschaftsgebietes. Er stammt aus der Geschlecht der Agilolfinger, einer wahrscheinlich fränkischen Adelsfamilie, die auch in Alemannien den Herzog stellt.

So präsentieren sich die Baiern erstmals der Weltgeschichte. Doch wo kamen sie her? Die Klärung der Frage gleicht einem Puzzlespiel, bei dem zwar viele Teile vorhanden sind und sich auch zusammensetzen lassen—andere, wichtige Teile aber fehlen. Die Formung eines Gesamtbildes erfordert deswegen ein Stück Interpretation,

Die Vorgeschichte

Bis 476 nach Christus gehörte das spätere bairische Siedlungsgebiet zum (west-)römischen Reich, genau zu den Provinzen Rätien—westlich des Inns—und Noricum—östlich. Die Kontrolle über das Voralpenland war essentiell für die Sicherheit Italiens, weshalb Rom in den Aufbau einer schlagkräftigen Zivil- und Militärverwaltung investierte. Ihren Höhepunkt erreichte die römische Macht im Voralpenland um das Jahr 200 nach Christus.

Rätien und westliches Noricum

Im 5. Jahrhundert allerdings war die Autorität Roms nur noch ein Schatten ihres einstigen Glanzes. Zermürbt von wiederholten Germaneneinfällen hatte sich die romanisch-keltische Bevölkerung in befestigte Städte zurückgezogen, wie etwa Regensburg (Castra Regina), Passau (Batava) oder Salzburg (Iovanum). Das Land war dünn besiedelt, von den einst zahlreichen römischen Landgütern (villa rustica) waren nur noch wenige übrig. Auch die römische Armee besaß nur noch einen Bruchteil ihrer einstigen Stärke und bestand zu einem großen Teil aus germanischen Söldern.

488 schließlich befahl Odoaker—ein römischer Offizier germanischer Abstammung, der 476 den letzten weströmischen Kaiser abgesetzt hatte—das Voralpenland aufzugeben, und ordnete den Abzug der römischen Provinzialtruppen nach Italien an. Wieviel Militär tatsächlich abzog ist unklar, die Provinz Noricum verließen wahrscheinlich mehr Soldaten als das bereits arg vernachlässigte Rätien. Ebenso unklar ist, wieviele Zivilisten den Truppen folgten—bestimmt nicht alle, denn eine romanische Rest-Bevölkerung läßt sich in Baiern bis mindestens ins 10. Jahrhundert nachweisen. 

Von dem Befehl Odoakers an wissen wir 70 Jahre lang: fast nichts. Es gibt keine historischen Aufzeichnungen oder anderweitigen schriftlichen Zeugnisse. Die bescheidenen archäologischen Funde sind schwer zuzuordnen und lassen Spielraum für Interpretation.

Mittel- und Westeuropa zu Zeiten Theoderichs
(grün: Frankenreich)
Bekannt sind lediglich die groben Parameter der politischen Ordnung. Oberbefehlshaber über das Voralpenland war ab 493 der Ostgotenkönig Theoderich der Große. Dieser bot 507 den Alemannen Schutz in Rätien an, nachdem jene mehrere Schlachten gegen die Franken verloren hatten. Auch setzte er einen Präfekten für Rätien ein. Wie sehr sich Theoderich von seinem Regierungssitz in Ravenna allerdings tatsächlich um das Voralpenland kümmern konnte ist unbekannt. 536 überließ Witichs—ein Nachfolger Theoderichs—dann das gesamte Gebiet nördlich der Alpen den Franken, um sich den Rücken freizuhalten für die Auseinandersetzung der Ostgoten mit dem mächtigen Byzanz.

15 Jahre später erwähnt ein in Konstantinopel ansässiger Schriftsteller (vermutlich) ostgotischer Herkunft—Jordanes—dann erstmals die Baiovaren; beiläufig und wie selbstverständlich als östliche Nachbarn der Sueben (=Alemannen).

Der Mythos von der großen Zuwanderung

Dieses plötzliche Auftreten am Ende der Völkerwanderungszeit, während der viele Stämme und Völker ihren Lebensraum wechselten, nährte einst den Verdacht, die Baiern müssten zugewandert sein—eine These die insbesondere im 19. Jahrhundert populär war. Der Name „Bajuwaren“ erhärtete den Verdacht: er läßt sich lesen als „Leute aus Baja“, und Baja kann—mit etwas Phantasie—als „Böhmen“ gedeutet werden. Die sprachlichen Parallelen machten insbesondere die Bojer zu Kandidaten, Vorgängervolk der Baiern gewesen zu sein: ein keltischer Stamm, der um Christi Geburt an verschiedenen Orten in Mitteleuropa gelebt hatte, dabei sowohl Römern als auch antiken germanischen Stämmen (Kimbern, Teutonen, Ambronen) einiges Kopfzerbrechen bereitet hatte, und möglicherweise Bajas Namensgeber gewesen war.
Siedlungsraum der Boier 

Zwischen dem Verschwinden der Boier und dem Auftreten der Baiern liegen allerdings mehr als 500 Jahre—zu lange für eine plausible historische Verbindung. Außerdem waren die frühen Baiern eindeutig Germanen, nicht Kelten. Als Alternativ-Ahnen kamen die Markomannen in Betracht: ein germanischer Stamm, in dem der böhmische Teil der Bojer einst aufgegangen war. Auch diese These enthält jedoch ihre Ungereimtheiten, denn die meisten Markomannen zogen bereits um das Jahr 400 aus Böhmen ab, und in Richtung Pannonien (Ungarn), nicht Rätien.

Den Garaus bereitete den Zuwanderungsthesen—zumindest in Kreisen der Wissenschaft—aber der archäologische Befund. Mehrere Friedhöfe aus dem 5. bis 7. Jahrhundert, welche in den vergangenen Jahrzehnten untersucht worden sind, deuten auf Kontinuität hin, nicht auf einen plötzlichen Bruch, welchen ein Austausch der Bevölkerung hätte verursachen müsste. Zwar gab es fraglos Zuwanderung in den späteren bairischen Siedlungsraum, überwiegend—wenn auch nicht nur—von Germanen (manche Grabbeilagen und DNA-Analysen deuten auf osteuropäische oder sogar zentralasiatische Verbindungen). Doch diese Zuwanderung fand kontinuierlich und über einen langen Zeitraum statt: sie begann bereits zur Römerzeit, und setzte sich ohne sonderliche Beschleunigung in der aufzeichnungsfreien Periode zwischen 488 und 551 fort.

Baiern und Alemannen

Ein weiteres Puzzleteil ist die Sprache der frühen Baiern: diese ist bis ins 12. Jahrhundert hinein nämlich praktisch nicht zu unterscheiden von der Sprache ihrer westlichen Nachbarn, den Alemannen. Waren die Baiern also lediglich eine Abspaltung der Alemannen?

Eine solche Frage basiert auf einem Misverständnis. Man darf sich die Baiern des 6. Jahrhunderts (noch) nicht als „Stamm“ im heutigen Wortsinn vorzustellen: als eine klar identifizierbare Bevölkerungsgruppe, die gekennzeichnet ist durch eigene Traditionen und, vor allem, eine eigene Art zu sprechen. Diese Form der Stammesbildung fand erst später statt, im Hoch- und Spätmittelalter, als Menschen über mehrere Generationen am gleichen Ort seßhaft waren und regionale Identitäten formen konnten.

In der Völkerwanderungszeit hingegen war „Stamm“ häufig ein politischer mehr als ein ethnischer Begriff. Stämme zerfielen, gingen in anderen Stämmen auf und formierten sich neu, durch den Zusammenschluss verschiedener Gruppen unter einer gemeinsamen Führung. Die Franken etwa entstanden auf diese Weise im dritten nachchristlichen Jahrhundert im Nordwesten Europas; ebenso zur etwa gleichen Zeit die Alemannen weiter im Süden. „Alamannen“ bedeutete ursprünglich nichts weiter als „alle Männer“: eben jene Männer, die sich an den Unternehmungen des neuen Stammes beteiligten.

Auch das Entstehen Baierns war zunächst wohl ein politischer Akt; die Frage ist, wann und weshalb er stattfand.

Ein Versuch, das Puzzle zu vervollständigen

Theoderich der Große
Soviel zu den vorhandenen Puzzleteilen. Wie passen sie zusammen? An dieser Stelle muss notwendig Spekulation die verbliebenen Lücken ausfüllen. Hier ist die mir am plausibelsten erscheinende Version.[1]

  • Baierns frühmittelalterliche Bevölkerung formte sich über Jahrhunderte (siehe oben), durch den schrittweisen Zuzug germanischer Siedler und den Rückgang der—bis ins 4. nachchristliche Jahrhundert bestimmenden—romanisch-keltischen Bevölkerung. Zum Zeitpunkt des ersten Auftretens der Baiern war ihre Kultur jener der benachbarten Alemannen sehr ähnlich. Ein Grund hierfür liegt vermutlich in der Regierungszeit des Ostgotenkönigs Theoderich des Großen im frühen 6. Jahrhundert, als jener den Alemannen Rätien als Rückzugsgebiet anbot. Theoderich kann somit als ein Pate Baierns gelten.

  • Die Bajuwaren als Vasallen der Franken
    Politisch ist Baiern wahrscheinlich eine Schöpfung der Franken. 536/37 fiel jenen die Gegend—bis dahin ostgotische Provinz—kampflos zu, sie war aber zu weit vom fränkischen Siedlungsgebiet am Niederrhein entfernt, um direkt die Kontrolle zu übernehmen. Stattdessen installierten die Franken—es muss wohl der austrasische Teilkönig Theudebert I. gewesen sein—einen abhängigen Herzog aus fränkischer Familie, der die Neuerwerbung verwalten sollte. Theudebert wäre damit der zweite Baiern-Pate.

  • Unklar bleibt, warum das neue politische Gebilde den Namen „Baiern“ bekam. Vielleicht versuchten die neuen Herrscher, mit dem Verweis auf ein antikes Land Baja einen Schöpfungsmythos zu begründen, der sie von Alemannen, Langobarden, Thüringern und anderen Nachbarn unterschied. Wem auch immer dieser Mythos eingefallen ist: er wäre der dritte Pate (ihm käme dann auch das Verdienst zu, Generationen von Bavarologen in die Irre geführt zu haben—die viel mehr in den Namen hineinlasen).

  • Mit (oder kurz vor) diesem ersten Auftreten der Baiovaren endete nicht etwa das Ausbilden einer bairischen Identität. Zutrifft das genaue Gegenteil: der Prozess hatte gerade erst begonnen. Zu den Baiern bzw. Bayern, wie wir sie heute kennen, sollten sich die Baiovaren erst in den darauffolgenden Jahrhunderten entwickeln.


[1] An dieser Stelle sei angemerkt dass der Autor  weder Historiker noch Archäologe noch Philologe ist. Die Spekulationen sind also die eines Laien und beanspruchen keinerlei Autorität. 

Die Hauptquellen für diesen Artikel sind Fachaufsätze in den folgenden Sammelbänden: Alois Schmid (Hg.) : 'Das alte Bayern. Von der Vorgeschichte bis zum Hochmittelalter' (2017) und Hubert Fehr & Irmtraut Heitmeier (Hg.): 'Die Anfänge Bayerns. Von Raetien und Noricum bis zur frühmittelaterlichen Baiovaria' (2014).

Bildnachweise:
- 'Ungefähres Siedlungsgebiet der Baiern um 550 nach Christus': eigene Arbeit
- 'Rätien und westliches Noricum': Marco Zanoli (wikimedia commons)
- 'Mittel- und Westeuropa zu Zeiten Theoderichs', 'Die Bajuwaren als Vasallen der Franken': alteileopard (wikimedia commons)
- 'Siedlungsraum der Boier': Dbachmann (wikimedia commons)
- 'Theoderich der Große': wikimedia commons

Donnerstag, 29. Juli 2021

Bayern und Österreich


Zum bayerischen Selbstverständnis gehört die Nähe zu Österreich: zumindest Altbayern betonen gerne, dass sie mit Österreichern mehr gemein h
ätten als mit den ‘Preissn’ im Norden. Und auch Österreicher nehmen Bayern—zumindest wenn sie gnädig gestimmt sind—vom „Piefke“tum aus: einer abfälligen Bezeichnung für alles (Nord-)deutsche. Wieviel Gemeinsames gibt es zwischen Bayern und Österreich wirklich? Und wo liegen die Wurzeln der (Seelen-) Verwandtschaft? 

Sprache: Österreich ist bairischer als Bayern 

Das Offensichliche zuerst: die sprachliche Verwandschaft zwischen Bayern und Österreich ist nicht zu überhören. Mehr als die Hälfte der Bewohner des Freistaates leben im bairischen Sprachraum; die altbayerischen Regierungszbezirke Oberbayern, Niederbayern und Oberpfalz gehören ihm fast vollständig an (aber auch im Sechsämterland in Oberfranken z.B. wird überwiegend bairisch gesprochen). In Österreich sind es sogar über 95 Prozent der Bevölkerung. Mehr noch, in Altbayern wie in Österreich dominieren mittelbairische Dialekte. Sie werden in fast allen großen Städten gesprochen: in München ebenso wie in Wien, in Graz genauso wie in Regensburg, in Linz wie in Ingolstadt.

Münchner und Wiener etwa verstehen einander in der Regel problemlos. Einige Vokale sprechen sie anders aus: wo in Wien ein „Schpüi“ (Spiel) stattfindet ist es in München ein „Schpui“, und was in München „hoaßt“ heißt heißt in Wien „haaßt“. Auch reimt sich „Schpoat“ (Sport) auf „hoat“ (hart) nur in Wien (Reinhard Fendrich). Und es gibt natürlich lokalen Slang: „leiwand“ (großartig) ist das Leben in Wien, in München ist es eher „griabig“ (gemütlich). Aber das sind kleine Unterschiede. 

Größer ist die sprachliche Distanz der mittelbairischen Dialekte zum Nordbairischen der (nördlichen) Oberpfalz und zum Südbairischen Tirols und Kärntens—oder gar zum Ostfränkischen der fränkischen Regierungsbezirke oder dem Alemannischen Vorarlbergs. Aber solche Unterschiede sind ebenso groß innerhalb Bayerns und Österreichs wie zwischen ihnen.

Der bairische Sprachraum
Der bairische Sprachraum




















 ... das Ergebnis einer gemeinsamen, frühmittelalterlichen Wurzel.

Wenn man Geschichte vom Ausgangs- (und nicht vom End-) punkt betrachtet, dann macht es durchaus Sinn, von einer gemeinsamen bayerisch-österreichischen Geschichte zu sprechen. Sie beginnt mit dem frühmittelalterlichen Herzogtum Baiern und manifestiert sich heute in zwei Nachfolgestaaten: dem Freistaat Bayern und der Republik Österreich. 

Österreichs Ursprung ist der einer bairischen Kolonie. Mitte des 6. nachchristlichen Jahrhunderts tauchte das Stammesherzogtum Baiern aus dem Nebel der Völkerungswanderungszeit auf und belegte den Raum zwischen Donau und Alpen, Lech und Enns—bis heute wissen wir nicht genau, wo, wie und wann es sich geformt hat. In den darauffolgenden Jahrhunderten drangen bairische Siedler in benachbarte Gebiete vor: zunächst nach Süden und Norden, dann in mehreren Schüben nach Osten und Südosten, in vormals von Awaren und Slawen beherrschtes Gebiet.[1] Die Siedler errichteten sogenannte Grenzmarken: autonome Provinzen, die von einem Markgrafen verwaltet wurden, den Baiernherzögen in Regensburg aber unterstellt blieben.

Die Grenze zwischen dem frühmittelalterlichen ’Altbaiern’—dem Gebiet des bairischen Stammesherzogtums um ca. 700, welches grob die heutigen altbayrischen Regierungsbezirke umfasste, aber auch Tirol, Salzburg und den Großteil Oberösterreichs—und den ‘Neubaiern’ in Niederösterreich, Kärnten und der Steiermark lässt sich heute noch auf Dialektkarten ablesen: siehe die blau gestrichelte Linie auf der Karte oben. 

Stammesherzogtum: Kern und Erweiterungen
Schon im 10. Jahrhundert—also vor über 1000 Jahren—aber begannen die Kolonisten sich abzusetzen. Zuerst erlangte Kärnten 976 Unabhängigkeit, unter Mithilfe des deutsch-sächsischen Kaisers Otto II, dem die bairische Machtkonzentration im Südosten des Reiches unheimlich geworden war. Der Ostmark—die auch "Ostarrichi" genannt wurde und in etwa dem heutigen Niederösterreich enstprach—standen die Baiernherzöge zwar noch fast 200 weitere Jahre vor, sie agierte aber zunehmend eigenständig und erreichte schließlich als Herzogtum Österreich 1156 ebenfalls Unabhängigkeit, mit Wien als Hauptstadt. Erneut stand einer deutscher Kaiser Pate bei der Geburt, diesmal ein Schwabe: Friedrich I. Barbarossa.

Ab dem späten Mittelalter: Österreich wächst Baiern über den Kopf

Von da an drehte sich die Expansionsrichtung um: Österreich vereinigte nicht nur die ehemaligen Grenzmarken, es verleibte sich auch schrittweise altbairische Gebiete ein. Linz etwa ging dem Herzogtum Baiern 1210 verloren. Ein besonderer Coup gelang den Habsburgern—sie regierten seit 1282 in Wien—1363 mit der Erwerbung Tirols. Überhaupt setzte sich die expandierende Habsburger-Großmacht meist gegenüber dem bairischen Herzogtum durch, auch weil letzteres häufig von internem Zwist geplagt wurde—zwischen 1255 und 1505 war es gar in mehrere Teil-Herzogtümer aufgeteilt. Gerade aus solchen Erbstreitigkeiten schlug Österreich immer wieder territorialen Gewinn. 

Innviertel
Eine letzte größere Erwerbung gelang Österreich 1779 mit dem Innviertel, einem ca. 90 Kilometer langen und 30 Kilometer breiten Steifen südwestlich von Passau. Um ein Haar wäre Baiern Ende des 18. Jahrhunderts sogar ganz an Österreich gefallen: denn nur zu gern hätte der in Brüssel aufgewachsene Kurfürst Karl Theodor das Angebot des Habsburger-Kaisers Joseph II. angenommen, Altbayern gegen die Österreichischen Niederlande einzutauschen (in etwa das heutige Belgien). Ein Machtwort Preußens verhinderte den Tausch.

Versuche Baierns, das Blatt zu wenden und Österreich aus altbairischem Gebiet herauszudrängen, gab es zwar immer wieder, sie schlugen aber meist fehl. Den letzten Anlauf unternahmen Kurfürst Maximilian IV. (der Nachfolger Karl Theodors) und sein Minister Montgelas 1805, als sie mit Napoleons Hilfe Tirol annektierten. Die Tiroler aber sahen sich schon lange nicht mehr als Baiern und rebellierten unter Volksheld Andreas Hofer gegen die Fremdherrschaft. Nach der Niederlage Napoleons bestand Österreich erfolgreich auf Rückgabe, außerdem verleibte es sich Salzburg ein: seit dem Frühmittelalter Sitz des bairischen Erzbischofs und damit gewissermaßen die geistliche Hauptstadt des alten Baiern. Salzburg hatte 1328—während einer der vielen Schwächephasen des bairischen Herzogtums—Eigenständigkeit als Fürstbistum erlangt, und sich dann fast 500 Jahre lang als Pufferstaat zwischen Baiern und Österreich gehalten.

Anders als die meisten ihrer Vorgänger wussten Maximilian und Montgelas sich zu helfen: für die Verluste hielten sie sich in Franken und Schwaben schadlos—was den Charakter Baierns nachhaltig veränderte. Aus dem einstigen Stammesherzogtum wurde das Königreich ‘Bayern’, ein süddeutscher Territorialstaat mit sprachlich und religiös gemischter Bevölkerung.
 
Gemeinsames, aber auch viel Eigenes

Bei allen sprachlichen und historischen Gemeinsamkeiten zwischen Bayern und Österreich ist allerdings unverkennbar, dass sich in 900 Jahren eigenständiger Geschichte auch große Unterschiede  herausgebildet haben. Das Spätmittelalter, Reformation, Aufklärung und Absolutismus, das Zeitalter der Nationalstaaten, die industrielle Revolution und das 20. Jahrhundert—das meiste haben sie getrennt durchlebt und dabei eigene Traditionen geformt. 

Wiener Hofburg, Münchner Residenz
Am deutlichsten zeigt sich dies vielleicht an den Hauptstädten, München und Wien. Beide erlangten ihre heutige Bedeutung erst lange nach der Abspaltung Österreichs vom Stammesherzogtum. Und beide sind ihrem Selbstverständnis nach Residenzstädte: politischer und kultureller Mittelpunkt des jeweiligen Landes, in deren Glanz und Prestige monarchische wie republikanische Landesfürsten jahrhundertelang investiert haben. 

Aus der gemeinsamen  Wurzel sind in den vergangenen 900 Jahren gewissermaßen zwei separate Stämme gewachsen—die zwar sichtlich miteinander verwandt sind, sich aber auch nicht gleichen.


[1] Die Geschichte der bairischen Ost-Kolonisation ist ebenso faszinierend wie vielschichtig, und schwer in wenigen Sätzen zusammenzufassen. Eine Skizze:

Der Machtbereich des bairischen Stammesherzogtums erstreckte sich im 6.-8. Jahrhundert bis zur Region zwischen Traun und Enns im heutigen Oberösterreich. Einer weiteren Expansion nach Osten standen fast 250 Jahre lang die Awaren im Weg: ein aus Zentralasien stammendes Reitervolk, das ab 568 die pannonische Tiefebene inklusive des Wiener Beckens kontrollierte. Der Sieg Karl des Großen über die Awaren 796 löste einen ersten bairischen Siedlungssschub donaubabwärts aus (die Awaren verschwanden anschließend aus der Geschichte—praktisch spurlos).

Mit den Ungarneinfällen ab 899 erlitt Baierns Ostexpansion einen schweren Rückschlag: die neu gewonnenen Gebiete gingen wieder verloren. Ein zweiter Wendepunkt kam 955 mit dem Sieg des kaiserlichen Heeres Ottos des Großen über die Ungarn auf dem Lechfeld bei Augsburg. Die Magyaren zogen sich daraufhin nach Westungarn zurück, was bairischen Siedlern erneut erlaubte, sich entlang der Donau nach Osten auszubreiten—und diesmal dauerhaft. 976 belehnte Kaiser Otto II. die Babenberger mit der Markgrafschaft Ostarrichi: der Kernzelle des späteren Österreich.

In der Gegend südöstlich Baierns hatten sich im späten 6. Jahrhundert im Zuge der awarischen Expansion slawische Stämme niedergelassen: die awarischen Fürsten ('Chagane') setzten slawische Siedler oft gezielt ein, um ihren Herrschafsraum abzusichern. Um 600 enstand das slawische Fürstentum Karantien mit Herrschaftszentrum in der Nähe des heutigen Klagenfurt.

In den folgenden Jahrzehnten empfand Karantien die Awaren jedoch zunehmend als Bedrohung. Um das Jahr 740 bat Karantenfürst Borouth deshalb den Baiernherzog Odilo um Schutz—den jener auch gewährte, allerdings um den Preis der Anerkennung bairischer Oberherrschaft. Kurze Zeit später begann die bairische Besiedlung Karantiens, angeführt von christlichen Missionaren aus den Bistümern Regensburg, Freising, und—vor allem—Salzburg. Die Zuwanderung setzte sich auch fort nachdem Karl der Große 788 Baiern und Karantien dem Frankenreich angegliedert hatte. Der immer geringer werdende slawische Bevölkerungsanteil wurde schrittweise assimiliert: aus Karantien wurde Kärnten.

[2] Mit Ausnahme des 'Rupertiwinkels': Salzburgs Besitzungen links der Salzach wurden Bayern zugeschlagen, darunter Laufen (heute Landkreis Berchtesgadener Land) und Waging (Landkreis Traunstein). Benannt ist der Rupertiwinkel nach Salzburgs Stadtheiligem Rupert, der um 700 im Auftrag der bairischen Herzöge das Bistum Salzburg gründete. 


Bildnachweise: 
- 'Sprachen und Dialekte in Bayern und Österreich': eigene Arbeit
- 'Der bairische Sprachraum': Stifterhaus - stifterhaus.at/forschung/sprachforschung/dialekte-in-ooe/bairisch
- 'Stammesherzogtum: Kern und Erweiterungen': Maximilian Dörrbecker (wikimedia commons)
- 'Innviertel': unknown author (wikimedia commons)
- 'Wiener Hofburg': bwag (wikimedia commons)
- 'Münchner Residenz': MagentaGreen (wikimedia commons)

Sonntag, 27. Dezember 2020

Bayern: eine Schöpfung des 19. Jahrhunderts

Manche Bayern behaupten, im ältesten existierenden Staat Europas zu leben—und dies durchaus zurecht, denn das mittelalterliche Stammesherzogtum Baiern lässt sich bis ins 6. Jahrhundert zurückverfolgen. Der moderne Freistaat Bayern jedoch verdankt seine Gestalt drei Männern des frühen 19. Jahrhunderts: Napoleon Bonaparte (1769-1821), Maximilian Graf von Montgelas (1759-1838), und König Ludwig I. (1786-1868)

Drei Landesväter: ein Weltumwälzer, ein Taktierer und ein Romantiker

Napoleon
Napoleon zerschlug Deutschlands Machtgefüge und ordnete es neu. Wer sich ihm entgegenstellte wurde bestraft, wer half und Napoleon in Deutschland den Rücken freihielt, durfte mit Belohnung rechnen. Um kooperationswillige Landesfürsten vergüten zu können, löste Napoleon zwischen 1801 und 1810 unzählige kleinere Fürstentümer, Grafschaften, Hochstifte (d.h., Bistümer mit weltlicher Staatsgewalt) und freie Reichsstädte auf—Gebiete, die oft jahrhundertelang unabhänig gewesen waren.

Graf Montgelas, erster Minister des Kurfürstentums Baiern, manövrierte sein Land so geschickt durch diese Zeit, dass sich Baierns Staatsgebiet verdoppelte. 1805 schlug sich Montgelas auf die Seite Napoleons. Als Lohn kamen unter anderem die freien Reichsstädte Nürnberg, Augsburg und Regensburg zu Baiern, auch die Marktgrafschaften Ansbach und Bayreuth, sowie Tirol aus der Konkursmasse des besiegten Österreich und das Fürsterzbistum Salzburg.

Montgelas

Als sich 1813 jedoch Napoleons Niederlage abzeichnete, wechselte Montgelas kurz vor der entscheidenden Völkerschlacht von Leipzig die Seiten—gegen die Zusage, Baierns Gebietszuwächse behalten zu dürfen. Die österreichischen Gebiete musste Montgelas trotzdem zurückgeben, aber als ‚Entschädigung‘ erhielt Baiern 1814 Würzburg und Aschaffenburg.

Verglichen mit dem Kurfürstentum von 1800 umfasste das Königreich Baiern von 1815—Montgelas hatte seinem Souverän Maximilian auch die Königswürde verschafft—nicht nur große fränkische Gebiete (dazu gleich mehr), sondern auch die östlichen Regionen Schwabens, den hessisch geprägten Untermain um Aschaffenburg, und altbayerische Besitzungen, welche sich bis dahin dem Zugriff der Wittelsbacher entzogen hatten, wie Regensburg oder die Bistümer Passau und Freising. 

Wie nachhaltig Montgelas Bayern geprägt hat zeigt sich daran, dass 14 der 18 größten Städte des Freistaats heute Erwerbungen Montgelas‘ sind: Nürnberg, Augsburg, Regensburg, Würzburg, Fürth, Erlangen, Bamberg, Bayreuth, Aschaffenburg, Kempten, Neu-Ulm, Schweinfurt, Passau und Freising. Nur München, Ingolstadt, Landshut und Rosenheim gehörten auch 1800 schon zu Baiern.

Ludwig I.

Das Königreich, welches Ludwig I. 1825 von seinem Vater Maximilian erbte, war nach revolutionär-französischem Vorbild in Kreise eingeteilt, die Flussnamen trugen: es gab einen Ober- und einen Unterdonaukreis, einen Unter- und einen Obermainkreis, einen Isarkreis, einen Rezatkreis und einen Regenkreis (ferner einen Rheinkreis—die Pfalz). Dem Romantiker Ludwig gefiel das nicht. Er schnitt die Kreise neu zu und gab ihnen historisierende Namen: Ober- und Niederbayern, Oberpfalz, Ober- Mittel- und Unterfranken, und Bayerisch Schwaben.[1] Auch ersetzte Ludwig—der Griechenlandschwärmerei seiner Zeit ensprechend—das „i“ in Baiern durch ein „y“. Bayern war geboren.

Ludwigs unhistorische Schöpfungen

Tatsächlich waren Ludwigs Bezirke eher unhistorisch. Die Namen „Ober-“ und „Niederbayern“ etwa entlehnte er den Teilherzogtümern zu Zeiten der bayerischen Landesteilung im 13.-15.Jahrhundert: damals hatte es tatsächlich ein Oberbaiern-München und ein Niederbaiern-Landshut gegeben (zeitweilig auch ein Oberbaiern-Ingolstadt und ein Niederbaiern-Straubing). Ludwig grub diese Begriffe, welche 400 Jahre ungenutzt gewesen waren, wieder aus—beließ es aber bei den Namen. Hätte er die historischen Territorien nachbilden wollen hätte Niederbayern deutlich größer ausfallen müssen: zumindest die Landkreise Freising, Erding, Mühldorf, Altötting und Traunstein müssten heute niederbayrisch sein.

Noch zweifelhafter war Ludwigs Behandlung Frankens. Dank Montgelas‘ Geschick waren Bayern viele Territorien zugefallen, in denen ostfränkische Dialekte gesprochen wurden (siehe oben). Grob ensprachen sie dem „fränkischen Reichskreis“—Teil einer administrativen Ordnung, die 1806 mit dem alten deutschen Kaiserreich untergegangen war. Ludwig knüpfte aber nicht an den Reichskreis an, sondern an das Stammesherzogtum Franken des 9. und 10. Jahrhunderts—zusätzlich zu „König von Bayern“ verlieh er sich den Titel „Herzog von Franken“ (ausserdem „Herzog in Schwaben“). 

Herzogtum Franken um 900
Dieses mittelalterliche Franken hatte aber weiter westlich gelegenund unter anderem das heutige Hessen und die Pfalz umfaßt, nicht jedoch Nürnberg, Bamberg oder Erlangen. Und wo Ludwig bei Ober- und Niederbayern noch historische Begriffe wiederbelebt hatte, da erfand er die Unterteilung seines Frankens neu—mit Bezirksnamen, die sich nach der Lage am Main richteten: „Oberfranken“ am Oberlauf, „Unterfranken“ am Unterlauf, „Mittelfranken“—nun, gar nicht am Main. 

Ludwigs Bezirke fassten Dinge zusammen, die historisch und kulturell nicht zusammen gehörten. Mittelfranken etwa vereinte die Bürgerstadt Nürnberg mit der absolutistischen Markgrafschaft Ansbach; Oberfranken das katholische Bistum Bamberg mit der evangelischen Markgrafschaft Bayreuth. Und zur Hauptstadt der Oberfpalz—also der Wittelsbacher-Gebiete nördlich der Donau—machte Ludwig ausgerechnet Regensburg: Baierns alte Hauptstadt, die im13. Jahrhundert lieber freie Reichsstadt als Herzogsresidenz hatte sein wollen, und die Wittelsbacher hinausgeworfen hatte.

Ein Kunstprodukt setzt sich durch

Wie man über Ludwigs Schöpfungen auch lästern mag: Tatsache ist dass sie sich durchgesetzt haben. Ludwigs Bayern lebt; das alte, vor-napoleonische Baiern ist vergessen—entrückte, versunkene Geschichte. Wenn der Straubinger Barde Hannes Ringlstetter etwa sein Niederbayern besingt, dann verklärt er eine Heimat, die vor 200 Jahren so niemand kannte. Oder wenn der Würzburger Autor Bernd Eusemann die Unterschiede zwischen mittel-,unter- und oberfränkischem Humor erklärt: er bezieht sich nicht etwa auf Althergebrachtes, sondern auf die Schöpfungen Ludwig I. 

Ja selbst die Gegner Bayerns und Anhänger eines unabhängigen Bundeslands Franken sind unweigerlich Ludwigs Gedankenwelt verhaftet: ohne Ludwig I. gäbe es schliesslich kein Franken, zumindest nicht in seiner heutigen Form. Selbst den Frankenrechen—dem Wappen den Würzbuger Bischöfe entnommen— erwählte Ludwig einst zum Symbol Frankens. 

 


[1] Im 19. Jahrhundert kam noch die Pfalz dazu (vormals ‚Rheinkreis‘). Ludwig kehrte nicht zum alten Wittelsbacher-System der Rentämter zurück, von dem es 1800 fünf gegeben hatte: München, Burghausen, Landshut, Straubing, und Amberg.

Bildnachweise:
- 'Napoleon', 'Montgelas', 'Ludwig I.': wikimedia commons
- 'Bayerische Landesteilung 1382': Lencer (wikimedia commons)
- 'Fränkischer Reichskreis 1789': miqmak (wikimedia commons)
- 'Herzogtum Franken um 900', 'Freistaat Bayern': wikimedia commons