Donnerstag, 12. Oktober 2023

Franken ist anders

Die fränkischen Regierungsbezirke bilden nicht nur ein Drittel des Freistaats Bayern, sie beherbergen auch sieben seiner zwölf größten Städte: Nürnberg, Würzburg, Fürth, Erlangen, Bamberg, Bayreuth, Aschaffenburg. Höchste Zeit, den Franken und ihrer Geschichte einen eigenen Artikel zu widmen. Woher kommen die Franken? Sind sie die Nachkommen Karls des Großen? Sind Franken und Altbayern verwandt? Ist Nürnberg Frankens historische Hauptstadt? Antwortversuche auf diese und andere Fragen.

Kaum etwas ist Franken wichtiger, als nicht für (Alt-)bayern gehalten zu werden—und dies mit vollem Recht. Nicht nur sprechen Franken kein Bairisch, ihre Geschichte spielte sich auch mehr als 1000 Jahre lang getrennt von Baiern ab: erst Anfang des 19. Jahrhunderts nutzte Graf Maximilian von Montgelas die Wirrungen der napoleonischen Zeit, um den Großteil Frankens dem Königreich Bayern einzuverleiben.

Die fränkische Geschichte nachzuerzählen ist allerdings nicht einfach. Sie ist voller Begriffsverschiebungen und Brüche, zeitlich führt sie zurück bis in die Antike, räumlich in Gebiete, die hunderte Kilometer vom heutigen Franken entfernt liegen. Eine fränkische Identität formte sich nur schrittweise, sie basiert weniger auf gemeinsamen politischen Traditionen als auf räumlicher Nähe und einem gemeinsamen Dialekt.

Der Ursprung des Begriffs ‚Franken‘

Das antike Franken
Der Begriff ‚Franken‘ taucht erstmals im dritten nachchristlichen Jahrhundert auf. Germanische Stammesverbände am Niederrhein—die Chattuarier, Brukterer, Usipeter, etc.—hatten den Römern heftig zugesetzt, weshalb römische Autoren sie als „heftig“ oder „frech“ bezeichneten, also als: fränkisch. Der Niederrhein ist (grob gesprochen) die Gegend zwischen Bonn und der Rheinmündung und liegt hunderte Kilomenter vom heutigen Franken entfernt.

200 Jahre später war das römische Reich in Auflösung begriffen. Angeführt von Chlodwig I.—einem Kriegsherren aus der Familie der Merowinger, der sich zum Herrscher über alle fränkischen Stammesverbände aufgeschwungen hatte—eroberten die Franken erst den Großteil des heutigen Frankreichs, und besiegten dann in mehreren Schlachten (496, 506/7) die Alemannen. Chlodwigs Sohn Theuderich unterwarf 531 auch noch die Thüringer, und 536 übertrugen die Ostgoten den Franken kampflos das Voralpenland, um sich den Rücken freizhuhalten für ihren (letztlich erfolglosen) Überlebenskampf gegen das mächtige Byzanz.

Altfränkische Expansion, 481-555
Den ‚Altfranken‘—wie wir sie hier zur Unterscheidung vom modernen Franken nennen—war so ein riesiges Gebiet zugefallen, das sich weit über ihren ursprünglichen Siedlungsraum erstreckte. Die Merowinger-Könige bedienten sich verschiedener Strategien, um die Macht abzusichern. In entfernt liegenden Gegenden, wie Baiern oder Alemannien, setzten sie Herzöge aus fränkischem Adel ein, die stellvertretend Verwaltung und Gebietssicherung übernahmen. In angrenzende Regionen hingegen entsandten die Altfranken Kolonisten, um dort unmittelbar die Kontrolle zu übernehmen. Ab Mitte des 6. Jahrhunderts zogen fränkische Siedler erst den Mittelrhein und dann den Main hinauf. Um das Jahr 600 erreichten sie Unterfranken, ab ca. 650 gibt es einen fränkischen ‚Dux‘ mit Sitz in Würzburg (siehe unten).[1]  

Der Begriff ‚Franken‘ ist zugewandert, nicht die Menschen

Waren die zugewanderten Altfranken die Vorfahren der heutigen Franken? Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war diese Ansicht durchaus verbreitet, heute gilt sie als Geschichtsmythos. Die entscheidende Einsicht lieferte die Sprachwissenschaft: der fränkische Dialekt—den Linguisten „Ostfränkisch“ nennen—enthält kaum Spuren jener altfränkischen Sprache, welche die antiken und frühmittelalterlichen Franken sprachen.[2] Ostfränkisch ist stattdessen eng mit benachbarten Dialekten verwandt, inbesondere dem Bairischen und dem Schwäbisch-Alemannischen, mit denen es die oberdeutsche Großdialektgruppe bildet.

Plausibler ist, dass eine relativ kleine Anzahl altfränkischer Zuwanderer auf eine größere Vor-Bevölkerung stießen und rasch in dieser aufging. Diese Vor-Bevölkerung hatte sich nach der Völkerwanderung aus derselben, elbgermanisch geprägten Gemengelage geformt, aus der auch die anderen Stämme des süddeutschen Raums hervorgegangen sind: Alemannen, Baiern, Langobarden, Thüringer.

Sprache und Besiedelung

Sprachräume in Franken nach Klepsch (2009)
Der Dialekt enthält weitere Hinweise auf die Vor- und Frühgeschichte.[3] Das Unter-Ostfränkische um Würzburg etwa teilt wichtige Merkmale mit dem Thüringischen—und tatsächlich ist es im Frühmittelalter schwierig, zwischen ‚Franken‘ und ‚Thüringen‘ genau zu unterscheiden. Die Regionen standen zeitweise unter gemeinsamer Herrschaft und müssen in engem Austausch gestanden haben. Erst ab dem 9. Jahrhundert entwickelten sich Unter-Ostfränkisch und Thüringisch deutlich auseinander.  

Anders liegen die Verhältnisse beim Ober-Ostfränkischen, dem Dialekt Oberfrankens und des westlichen Mittelfranken—geographisch von Unter-Ostfränkisch durch die sogenannte ‚Steigerwaldschranke‘ getrennt. Ober-Ostfränkisch ist jüngeren Datums: seine Entstehung fällt zusammen mit der Expansion Frankens nach Osten.[4] Ausgangspunkt war das 1007 gegründete Bistum Bamberg, Ziel die Christianisierung slawisch besiedelter Gebiete.  

Slawische Ortsnamen

Bis heute verraten viele oberfräkische Ortsnamen das slawische Erbe: Treunitz, Rehau, Osseck, Schorgast. An der Osterweiterung müssen auch Hessen und Pfälzer teilgenommen haben, denn im Ober-Ostfränkischen finden sich lautliche Merkmale, die zwar typisch für die rheinfränkischen Dialekte Hessens und der Pfalz sind, in Unterfranken aber fehlen (etwa „Staan“ für „Stein“—in Unterfranken heißt es „Steen“).

Die fränkische Osterweiterung griff über das slawische Gebiet hinaus—wie erneut die Sprache verrät. Im Osten und Süden Frankens mischen sich bairische Töne in den Dialekt. In Nürnberg etwa heißt der Schuh „Schouh“, in Weißenburg die Brühe „Bröih“. Diese ‚gestürzten Diphtonge‘ sind typisch für das Nordbairische (=Oberpfälzische)—und tatsächlich wurde der fränkische Osten im 7.-9. Jahrhundert zunächst vom Bistum Regensburg aus besiedelt. Erst ab dem 12. Jahrhundert kamen Siedler aus ober-ostfränkischen Gebieten hinzu, insbesondere nachdem die Staufer Nürnberg zum Königshof ausgebaut hatten

Seitdem verfränkelt der Nürnberger Raum—ein Prozess, der bis heute andauert. Auf Dialektkarten jedoch findet sich die frühmittelalterliche Siedlungsgrenze weiterhin als „nordbairische Westschranke“. Sie verläuft quer durch Mittelfranken: Nürnberg und Fürth liegen auf der ‚bairischen‘ Seite der Schranke, Erlangen und Ansbach auf der fränkischen.

Franken bekommt seinen Namen

Soweit zur Siedlungsgeschichte. Seit wann aber wissen die modernen Franken, dass sie ‚Franken‘ sind? Der Historiker Jürgen Petersohn unterscheidet mehrere Phasen der ‚Frankogenese‘:

·    Im Frühmittelalter war die Gegend um Würzburg namenlos.

West- und Ostfranken um das Jahr 1000

·    Im 10. Jahrhundert setzte sich dann der Begriff „Ostfranken“ durch, auf Latein „Francia Orientalis“. Das Gegenstück war „Westfranken“ (oder „Francia Occidentalis“), welches das heutige Hessen, Rheinland-Pfalz, und das nördliche Baden-Württemberg umfaßte. Die Grenze der zwischen den beiden Franken verlief quer durch den Spessart. Bis heute bildet der Spessartkamm die Grenze zwischen ostfränkischen und rheinfränkisch-hessischen Dialekten.[5]

·    Im 12. Jahrhundert kam schließlich der Begriff „Westfranken“ außer Gebrauch. Stattdessen wurden die Landstriche am Mittelrhein jetzt als „rheinische Gebiete“ oder „Rheinland“ bezeichnet.

Damit hatte das Maingebiet den Namen ‚Franken‘ für sich allein. Zeitgleich verschob sich die lateinische Bezeichung für Ostfranken von „Francia Orientalis“ zu „Franconia“—seitdem der Name für Franken in fast allen Fremdsprachen.

Ein Land, aber kein Staat

Der spätmittelalterliche Frankenbegriff war vor allem geographischer und kultureller Natur—ihm entsprach (meist) kein politisches Gebilde, anders als bei Baiern, Schwaben oder Sachsen. Die Ursache liegt im Verhältnis Mainfrankens zur altfränkischen bzw. (ab 962) deutschen Zentralmacht.

Hierzu etwas Kontext. Machtverschiebungen zwischen Zentrum und regionalen Herrschern prägten die Geschichte in allen deutschen Regionen. Das Herzogtum Baiern etwa war in seiner Frühzeit (ca. 550-715) den Merowinger-Königen nur lose unterstellt—zu weit lag es vom altfränkischen Kerngebiet entfernt, zu groß wäre der Aufwand gewesen, es unmittelbar zu kontrollieren. Mit dem Auftstieg der Karolinger erstarkte die altfränkische Zentralmacht, regionale Fürsten kamen zunehmend unter Druck. 788 setzte Karl der Große den Baiernherzog Tassilo ab und übernahm direkt die Herrschaft. In der Nachfolge Karls kam es dann zu mehreren Landesteilungen, welche die Zentralmacht wieder schwächten—prompt formte sich das bairische Stammesherzogtum 907 neu.

Karl Martell
(Graphik aus dem 16. Jhd)
In Franken war der Zugriff der Zentralmacht stets direkter als in Baiern. In der Frühzeit ab ca. 650 gab es zwar—wie oben erwähnt—einen mainfränkisch-thüringischen Amtsherzog mit Sitz in Würzburg, das sogenannte „Hedenen-Herzogtum“. Es überdauerte aber nur knapp 70 Jahre: irgendwann zwischen 716 und 719 kassierte Karl Martell—der Großvater Karls des Großen—es ein. Von da an war Mainfranken meist Königsprovinz, d.h. direkt den altfränkischen und (ab 962) deutschen Kaisern und Königen unterstellt. Regionaler Hegemon und Identifikationsfigur war ab 742 der Bischof von Würzburg—ein geistlicher Herrscher, der den Frankenkönigen nicht gefährlich werden konnte.

Nur einmal erlangte Franken nochmals kurz Eigenständigkeit—während der gleichen Schwächephase des Reiches am Anfang des 10. Jahrhunderts, in der sich auch das bairische Stammesherzogtum neu formierte. Ausgangspunkt war die „Babenberger Fehde“, ein blutiger Konflikt um die Vorherrschaft im Maingebiet zwischen der mainfränkischen Adelsfamilie der Babenberger und ihren rheinfränkischen Rivalen, den Konradinern.[6] Die Konradiner setzten sich durch und errangen nach dem Aussterben der Karolinger 911 sogar die Königskrone. Sie beharrten aber nicht auf ihr, sondern handelten ein Abkommen mit den aufstrebenden Sachsenherzögen aus: die Konradiner halfen dem Sachsen Heinrich bei der Königswahl von 919, dafür sicherte jener dem Konradiner Eberhard fast unbeschränkte Herrschaft in Ost- und Westfranken zu. Aber auch dieses zweite fränkische Herzogtum war nur von kurzer Dauer: schon 939 setzte ihm Heinrichs Sohn, Kaiser Otto I., ein Ende.

Der fränkische Flickenteppich

Das eifersüchtigte Wachen der Zentralmacht, niemand zu stark werden zu lassen, begünstigte die Ausbildung zahlreicher mittlerer und kleinerer Herrschaften, die für Franken so typisch ist.[7]

·    Im mainfränkischen Kerngebiet— grob dem heutigen Unterfranken entsprechend—dominierten, wie schon erwähnt, die Würzburger Bischöfe. Sie sahen sich gern als die eigentlichen Wahrer des Frankentums, und gaben sich im Spätmittelalter sogar den Titel „Herzöge in Franken“. Dies blieb aber ohne praktische Konsequenzen, da die Bischöfe herzögliche Kernkompetenzen, wie die Oberaufsicht über das Gerichtswesen, stets nur in ihrem unmittelbaren Herrschaftsbereich durchsetzen konnten.

Nürnberger Burg

·    Speerspitze der fränkischen Osterweiterung war das Bistum Bamberg—es war extra zu dem Zweck gegründet worden. Konkurrenz erwuchs ihm in Gestalt der Nürnberger Burggrafen, welche die Salierkaiser bewusst als Gegengewicht eingesetzt hatten. Ab 1191 stellten die Zollern (später Hohenzollern) die Burggrafen und erwarben ein bedeutendes Territorium im heutigen Ober- und Mittelfranken—finanziert u.a. aus den Erträgen des Bergbaus im Fichtelgebirge.

·    Über diesen „großen drei“ hinaus gab es (i) kleinere fränkische Grafschaften, wie Henneberg, Castell, Rieneck, Hohenlohe, Wertheim, (ii) Reichsstädte wie Hall, Heilbronn, Rothenburg, Schweinfurt, Windsheim, und (iii) zahlreiche niederrangige Herrschaften—etwa Reichsritter, deren Territorien oft nur ein paar Dörfer umfassten.

Nicht zu Franken zählte die Stadt Nürnberg.[8] Wie bereits erwähnt lag sie auf dem Gebiet des bairischen Nordgaus, bis in die frühe Neuzeit sprachen die Stadtbewohner eher bairisch als fränkisch. Aber die Nürnberger empfanden sich auch nicht als Baiern. Als Bürger einer selbstbewussten, großen Kaufmanns-, Handwerker- und Reichsstadt (ab 1219) hegten sie keinen Wunsch, irgendwo dazuzugehören: „...doch wöllen die Nürmberger weder Bayern noch Francken aber ein drittes besunders geslecht sein“, so der nürnberger Humanist Hartmann Schedel in seiner Weltchronik von 1493. Nürnberg stand vor allem für: sich selbst.  

Franken in der Neuzeit

Es würde diesen (ohnehin schon langen) Artikel sprengen, sich auch der Neuzeit noch ausführlicher zu widmen. Drei Entwicklungen bedürfen jedoch der Erwähnung.

·    Erstens ist da die Reichsreform Kaiser Maximilians I. von 1500-1512. Sie schuf zwölf Reichskreise: Zusammenschlüsse benachbarter Herrschaften, die gemeinsam reichshoheitliche Aufgaben wahrnehmen sollten, wie das Münzwesen oder die Landesverteidigung. Nürnberg schlug Maximilian dem fränkischen Reichskreis zu. Von da an wurde es meist zu Franken gezählt.[9]

·    Zweitens die Reformation, beginnend mit Luthers Wittenberger Thesenanschlag 1517. Nürnberg wurde schnell zu einem Zentrum des Luthertums, aber auch die meisten weltlichen Herrschaften Frankens schlossen sich der neuen Lehre an, allen voran die Markgrafen von Ansbach und von Kulmbach-Bayreuth (die Nachfolger der Nürnberger Burggrafen). Die Fürstbischöfe von Würzburg und Bamberg standen auf der anderen Seite des Konflikts: sie wehrten sich vehement gegen den Protestantismus und wurden zu treibenden Kräften der katholischen Gegenreformation.

Die Reformation leitete mehr als 100 Jahre schwerer Konflikte ein, während der fränkische Landstriche wiederholt gewaltsam den Herrscher wechselten. Beruhigung brachte erst das Ende des 30-jährigen Krieges 1648. Frankens Konfessionsgrenzen waren von da an weitgehend festgelegt. Seitdem gibt es einen katholischen (Würzburg, Bamberg, später auch Aschaffenburg) und einen evangelisch-lutherischen (u.a. Nürnberg, Bayreuth, Ansbach) Teil, die ungefähr gleich groß sind. Die katholischen Gebiete sollten sich in der Folgezeit eher nach Süden orientierien—nach Rom, Wien, München—die evangelischen nach Norden, insbesondere Berlin.

·    Schließlich die napoleonischen Kriege von 1800-1815, in deren Zuge Franken größtenteils zu Bayern kam. Geschuldet war dies vor allem dem Geschick des bayerischen Ministers Maximilian Montgelas, der mehrfach rechtzeitig die Kriegsseite wechselte und sich von den jeweiligen Siegern—erst Napoleon, dann der anti-napoleonischen Allianz—königlich entlohnen ließ.

Das moderne Franken

Ganz im Geist der Zeit gab Montgelas dem erneuerten und fast verdoppelten Bayern eine streng zentralistische Ordnung. König Ludwig I. erfand 1838 dann die Regierungsbezirke Unter-, Ober- und Mittelfranken, und nannte sich außer „König von Bayern“ auch „Herzog von Franken“. Sein Franken besteht im Wesentlichen bis heute. Es ist nicht ganz deckungsgleich mit dem traditionellen Franken: das Henneberger Land und der Taubergrund etwa, die einst zum fränkischen Reichskreis gehörten, sind heute Teil anderer Bundesländer (Thüringen bzw Baden-Württemberg). Anderseits umfaßt das bayerische Franken auch Aschaffenburg, das bis 1803 zum Bistum Mainz gehörte und dessen Bewohner hessisch sprechen.[10]

Franken in Bayern

Montgelas‘ und Ludwigs Bayern brachte Gebiete zusammen, die zwar durchaus einiges gemeinsam hatten, vieles aber auch trennte. Gemeinsam sind Altbayern, Franken und Schwaben der oberdeutsche Dialekt und die süddeutsch-elbgermanische Herkunft—Wurzeln, die weit in die Vergangenheit reichen, in vor- und frühhistorische Zeiten.

Würzburg—das erste und einzige Zentrum Frankens
Anders sind vor allem die politischen Traditionen. Baiern war seit seiner Entstehung im 6. Jahrhundert meist ein halb-souveräner Zentralstaat, der ganz auf Herrscher, Hof und Hauptstadt ausgerichtet war. Regensburg war im Früh- und Hochmittelalter der Mittelpunkt Baierns, im Spätmittelalter konkurrierten Landshut und München miteinander, seit der Neuzeit findet das bairische politische Leben in München statt. Für Franken kann man allenfalls im Frühmittelalter—als der Begriff ‚Franken‘ in seiner heutigen Bedeutung noch gar nicht existierte—von Würzburg als Mittelpunkt sprechen. Danach bildeten sich verschiedene Zentren heraus: Bamberg und Nürnberg, Kulmbach, Bayreuth, Ansbach. Diese Zentren existierten nebeneinander, standen für unterschiedliche politische Traditionen, konkurrierten gelegentlich—aber fast nie war eine Stadt der anderen vorgeordnet.

Für viele Franken war es ein Schock, jetzt Teil des bayerischen Zentralstaats zu sein, insbesondere in den evangelischen Gebieten—und am schlimmsten wohl für die Bürger freier Reichsstädte wie Nürnberg, die sich plötzlich als ‚Fürstenknechte‘ wiederfanden. In den ersten Jahrzehnten der bairisch-fränkischen Zwangsehe provozierte dies heftige Konflikte, bis hin zu Aufrufen nach gewaltsamem Abfall, z.B. während der deutschen Revolution 1849. Entspannung brachte erst die Eingliederung ganz Bayerns 1871 in das Deutsche Reich: Franken bekam so einen zweiten Bezugspunkt.

Inzwischen ist die ‚Ehe‘ mehr als 200 Jahre alt, und es scheint, als seien die meisten Franken in Bayern angekommen—wohl auch, weil es ihnen als Teil des Freistaats nicht so schlecht ergangen ist. Aus Sicht dieses Autors ist das erfreulich. Bayern wäre weit weniger interessant, wenn es nur aus Altbayern bestünde. Und auch Franken wäre enger und begrenzter—a weng fad halt—würde es nur im eigenen Saft schmoren. Darüber hinaus fehlte einem fränkischen Zentralstaat der historische Bezug—tatsächlich eifert ein solcher Wunsch dem bayerischen Beispiel nach.[11]

Der Frankenrechen
Und doch: es wäre schön und angemessen, wenn die Verfasstheit des Freistaats nicht nur altbayerische sondern auch fränkische—und schwäbische—Traditionen widerspiegeln könnte. So sollte der—dem Wappen der Würzburger Bischöfe entnommene—Frankenrechen z.B. selbstverständlich in den fränkischen Regierungsbezirken als zweite Staatsflagge gelten. Nürnberg könnte zur zweiten Landeshauptstadt erhoben werden, Augsburg zur dritten—der traditionellen Multipolarität Frankens und Schwabens Rechnung tragend. Auch Regensburg und Würzburg hätten einen besondereren Status durchaus verdient, angesichts ihrer historischen Bedeutung für Altbayern bzw. Franken.

Schließlich: von 1946 bis 1999 gab es den bayerischen Senat: eine Honoratorenversammlung, die als zweite Parlamentskammer diente, und die ein Volksbegehren zurecht abschaffte. Als förderale Kammer hätte der Senat mehr Sinn gemacht, gebildet aus Vertretern der Regionen des Freistaates. Manche Entscheidungen hätten vielleicht sogar mit einer Sperrminorität von einem Drittel belegt sein können. Ohne Franken wäre dann nichts gegangen—ein Satz, der sich, fränkisch ausgesprochen, reimt.



[1]  Die Quellenlage ist dünn, was oft keine genauen Zeitangaben zulässt.

[2] Altfränkisch entwickelte sich weiter zum Niederfränkischen, was wiederum die Grundlage der modernen niederländischen Hochsprache bildet. Anders als Ostfränkisch weisen rhein- und moselfränkische Dialekte—grob die Dialekte Hessens, des Saarlands und von Rheinland-Pfalz—stärkere altfränkische Prägung auf. Im Frühmittelalter war die Ähnlichkeit noch größer, im Zuge der zweiten germanischen Lautverschiebung—welche die rhein- und moselfränkischen Dialekte zum Teil mitmachten, das Niederfränkische aber nicht—drifteten sie jedoch auseinander.

[3] Dieser Abschnitt folgt eng der Argumentation des Sprachwissenschaftlers Alfred Klepsch.

[4] Die fränkische Expansion geschah im Kontekt der deutschen Ostsiedlung—eines weit größereren Prozesses des Hochmittelalters, zu dem auch die Expansion Baierns donauabwärts in das Wiener Becken zählt.

[5]  Franken“ bezeichnete im 10. Jahrhundert also jene Gegenden an Mittelrhein und Main, welche die Altfranken im Frühmittelalter erobert hatten—und nicht mehr das antike Siedlungsgebiet am Niederrhein. Lezteres hieß inzwischen „Niederlothringen“ nach dem fränkischen Teilkönig Lothar II., dem in der Teilung von Prüm 855 „Lotharingien“ mit Hauptstadt Aachen zugesprochen worden war. „Ostfranken“ und „Westfranken“ dürfen nicht mit den ostfränkischen und dem westfänkischen Reichen verwechselt werden, die im Zuge der fränkischen Reichsteilung von 843 entstanden (Vertrag von Verdun). Ost- und Westfranken waren beide Teil des ostfränkischen Reichs, aus dem westfränkischen Reich entwickelte sich Frankreich.

[6] Die Stammburg der Babenberger lag auf dem heutigen Bamberger Domberg.

[7] Der politischen Zersplitterung entsprechen kleingliedrige Dialekträume: während in Altbayern der Dialekt zwischen Ingolstadt, Landshut und Rosenheim weitgehend identisch ist, können sich in Franken Aussprache und Vokabular von einem Dorf zum nächsten merklich ändern.

[8] Ebensowenig Weißenburg.

[9] Es gab auch keine andere praktische Möglichkeit, denn die benachbarte Oberpfalz ging an den kurrheinischen Kreis. Der bairische Kreis (der u.a. auch Salzburg enthielt) war damit weit entfernt.

[10] Ebensowenig berherbergt der Freistaat Bayern allerdings alle Bairisch-Sprecher—der größere Teil lebt in Österreich.   

[11] Nach Ansicht dieses Autors sollten wir Europäer ohnehin lernen, innerhalb unserer Grenzen zu leben, und nicht bei jeder Unstimmigkeit versuchen, die Landkarte neu zu zeichnen. Wenig hat in der europäischen Geschichte mehr Schaden angerichtet als dieser Reflex.    

____________________________

Die Hauptquellen für diesen Artikel sind Anna Schieners ‚Kleine Geschichte Frankens‘ (7. Auflage, 2022), ‚Franken im Mittelalter‘ von Jürgen Petersohn (2008) und das ‚Fränkische Dialektbuch‘ von Eberhard Wagner (1987). Ferner der Aufsatz ‚Fränkische Dialekte‘ von Alfred Klepsch im Historischen Lexikon Bayerns (2009), sowie ältere sprachhistorische Werke, insbesondere ‚Sprachraumbildung und Landesgeschichte im östlichen Franken‘ von Hugo Steger (1968) und ‚Die Deutsche Schreibsprache in Nürnberg von ihrem ersten Auftreten bis zum Ausgang des 14. Jahrhunderts‘ (1954) von Josef Pfanner. Sehr hilfreich auch der youtube-Kanal "Franken Herz Europas" von Johannes Pechstein, der mich u.a. auf Petersohn verwies. 

Bildnachweise: alle Wikimedia Commons, bis auf 'Sprachräume in Franken', das dem Artikel Alfred Klepschs im Historischen Lexikon Bayerns entnommen ist.

Mittwoch, 4. Januar 2023

Bairisch und Hochdeutsch

Rund 16 Millionen Menschen leben im bairischen Sprachgebiet7 Millionen im Freistaat Bayern, 9 Millionen in Österreich und in Südtirol. Wie, wann und wo ist das Bairische entstanden? Was erklärt seine verschiedenen Varianten? Und wie verhält sich Bairisch zum ‘Hochdeutschen’—der deutschen Standardsprache? Eine Tour de Force durch die wichtigsten Zusammenhänge.

Wie so vieles in der deutschen Vor- und Frühgeschichte liegen auch die Ursprünge der deutschen Sprache im Dunkeln. Vorläufer der Deutschen waren die Germanen, von denen wir bereits aus der Antike wissen—allerdings betrachtet durch die Linse der Römer, so dass wir über ihre Sprache nur bruchstückhafte Erkenntnisse besitzen. Die Völkerwanderung beendete die Vorherrschaft Roms und mischte die Verhältnisse in Mitteleuropa neu.

Frühbajuwarische Fundstellen
An ihrem Ende war Deutschland von verschiedenen Stämmen besiedelt. Manche waren aus der Antike bereits bekannt, wie die Alemannen, die Franken oder die Sachsen. Andere waren vorher nicht in Erscheinung getreten, darunter die Bajuwaren: ab Mitte des 6. Jahrhunderts besiedelten sie die Gegend zwischen Donau und Alpen, Lech und Enns (im heutigen Oberösterreich). ‘

Bairisch sprachen die ersten Bajuwaren allerdings noch nicht—dafür waren die Dialekte am Anfang des Frühmittelalters zu wenig ausgebildet. Die wenigen schriftlichen Zeugnisse zeigen etwa kaum einen Unterschied zwischen bajuwarischen Dokumenten und jenen der benachbarten Alemannen und Langobarden. 

Das Frühmittelalter: Geburtsstunde der deutschen Sprache—und ihrer Dialekte

Dialekte entwickelten sich erst in den Jahrhunderten nach der Völkerwanderung. Mitteleuropa war unter der Vorherrschaft der Franken halbwegs zur Ruhe gekommen, die Menschen konnten seßhaft werden, Ackerbau und Handwerk betreiben. Austausch mit entfernter lebenden Gruppen wurde selten, die meiste Kommunikation fand innerhalb des gleichen Herrschaftsbereichs statt. Unter diesen Bedingungen konnten Sprachneuerungen lokal Fuß fassen und sich regional verbreiten. Der Lech etwa, zunächst lediglich eine politische Demarkationslinie, wurde zunehmend zur Sprachgrenze zwischen den bairischen und den alemannisch-schwäbischen Dialekten. Er ist es bis heute gelieben.

Viele frühmittelalterliche Sprachänderungen lassen sich unter einen gemeinsamen Begriff zusammenfassen: die zweite germanische Lautverschiebung. Zwischen dem 6. und 9. Jahrhundert (die genaue Datierung ist umstritten) veränderte sich in vielen Gebieten “th” zu “d”(thenkenàdenken). Aus“p” wurde “f” oder “pf” (AppelàApfel); aus “t” wurde “s” oder “z” (WateràWasser), und aus “k” wurde “ch” (makenàmachen)—dies sind nur einige Beispiele. Diese Veränderungen machten aus “Germanisch” erst “Deutsch”: es entstanden Sprachmerkmale, die Deutsch von anderen germanischen Sprachen unterscheiden.[1]

Niederdeutsch und Hochdeutsch
Zugleich waren nicht alle Gegenden gleichermassen von der Lautverschiebung betroffen. Je weiter im Süden ein Gebiet lag, desto stärker führte es in der Regel die Sprachänderungen durch. Dies gliederte Deutschland in Dialekträume. In Norddeutschland entstand ein niederdeutscher Raum, in dem die Lautverschiebung kaum Fuß fasste—die Sprache blieb in vielem den benachbarten Niederfränkisch (Basis der niederländischen Standardsprache), Friesisch und Englisch ähnlich.[2]

Im hochdeutschen Sprachraum—so benannt nach den höher gelegenen Regionen Deutschlands—hingegen änderte sich die Sprache stärker. Hochdeutsch zerfiel noch einmal in Mittel- und Oberdeutsch. Nur die oberdeutschen Dialekte führten die Lautverschiebung nahezu vollständig durch: das (Ost-) Fränkische, das Schwäbisch-Alemannische, und das Bairische.[3]

Die Dialekträume bilden, zumindest grob, die politischen Verhältnisse des Hochmittelalters ab

Im Hochmittelalter, also ungefähr ab dem Jahr 1000, waren die deutschen Dialekträume so ausgebildet, wie sie—im Großen und Ganzen—heute noch bestehen. Ihre Grenzen decken sich auch am besten mit den politischen Verhältnissen des Hochmittelalters, zumindest ist die Übereinstimmung größer als mit jeder anderen Periode. Bairisch ist ein gutes Beispiel. Seine heutige Verbreitung entspricht grob der Ausdehnung des bairischen Stammesherzogtums im späten 10. Jahrhundert, als Tirol, Kärnten und die bairische Ostmark noch unter der Oberherrschaft der Baiernherzöge in Regensburg standen.

Bairische ("Boarische") Dialektvarianten
Mehr noch: auch in den Dialektvarianten spiegelt sich mittelalterliche Geschichte. Der bairische Hauptdialekt ist das Mittelbairische, manchmal auch Donaubairisch genannt, da es im Donaubecken vom Lech bis zur Leitha (österreichisch-ungarischer Grenzfluss) gesprochen wird. Wien und München zählen beide zum mittelbairischen Sprachgebiet, es ist der Dialekt von mehr als 80 Prozent der Bairisch-Sprecher. Kulturprägend ist Mittelbairisch insbesondere durch seine Präsenz in den Städten: selbst Regensburg oder Graz—die eher im nord- bzw. südbairischen Dialektraum liegen—bilden von jeher mittelbairische Sprachinseln. 

Mittelbairisch zerfällt in eine westliche und in eine östliche Variante. Westliches Mittelbairisch wird in Ober- und Niederbayern gesprochen, traditionell auch in Salzburg und in Teilen Oberösterreichs. Dies deckt sich mit dem Kerngebiet des bairischen Herzogtums im 6. und 7. Jahrhundert. Sprachwissenschaftler sprechen deshalb auch von ‘Altbairisch’.[4]  

Östliches Mittelbairisch hingegen ist der Dialekt der ‘Neubaiern’, also jener Kolonisten, die im 10. Jahrhundert nach Ende der Magyareneinfälle die Donau hinunterzogen und im Wiener Becken die Ostmark errichteten—die Kernzelle des späteren Österreich.

Nord- und Südbairisch sind Randdialekte, die sich in entlegeneren Gebieten entwickelten, auf welche die Baiernherzöge oft nur unzureichend Zugriff hatten. Nordbairisch entstand im mittelalterlichen Nordgau, aus dem später die Oberpfalz hervorging. Es ist inbesondere für seine sogenannten ‘gestürzten Diphtonge’ bekannt: Bruder ist ‘Brouda’ statt ‘Bruada’ im Mittelbairischen; Brief ist ‘Brejf’ staff ‘Briaf’.

Südbairisch hat zwei Stammländer: Kärnten und Tirol, beides vormalige Grenzmarken, die im 10. bzw. 12. Jahrhundert von den Baiernherzögen unabhängig wurden. Nord- wie Südbairisch sind konservative Dialektformen: viele ihre Charakteristiken waren einst auch im Mittelbairischen verbreitet, kamen dort aber außer Gebrauch. Ein Beispiel sind die südbairischen ‘Affrikate’, d.h. die Verschiebung von “k” zu “kch”. Ein Kind ist auf Südbairisch ein ‘Kchind’, eine Kuh eine ‘Kchua’.

Nürnberg: einst bairisch, heute fränkisch

Soweit die historischen Grundzüge—von denen es viele Ausnahmen gibt, denn die Dialekträume entwickelten sich freilich auch nach dem Hochmittelalter weiter. Eine aus bayerischer Sicht besonders wichtige Ausnahme ist Nürnberg. Heute ist Nürnberg die Frankenmetropole des Freistaats, eine Art fränkisch-lutherischer Gegenpol zum altbayerisch-katholischen München.

Nürnberg im bairischen Nordgau
Dies war nicht immer so. Im Hochmittelalter gehörte der Nürnberger Raum zum Nordgau, seine Ur-Bevölkerung sprach Nordbairisch. Fränkischer Einfluß machte sich erst im 12. Jahrhundert bemerkbar, als die Staufer Nürnberg zum Königshof ausbauten. Dies zog Zuwanderer aus den benachbarten ostfränkischen Gebieten an, schrittweise formte sich ein Mischdialekt. Noch in der Renaissance dominierten aber die nordbairischen Elemente—Albrecht Dürer, der wohl berühmteste Nürnberger, sprach eher bairisch als fränkisch.

Größtenteils 'verfränkelt' ist Nürnberg erst in den vergangenen 200 Jahren. Heute finden sich im Stadtdialekt nur noch Spuren des nordbairischen Fundaments—wie etwa ‘Brouda’: so heißt der Bruder auch in Nürnberg, und nicht ‘Bruuda’ wie in den meisten Teilen Frankens.

Salzburg verwienert, Wien und München verwässern

Eine noch jüngere Entwicklung ist das Verschieben der Sprachgrenze zwischen West- und Ostmittelbairisch in Richtung Westen. Noch vor 70 Jahren lief die Grenze quer durch Österreich. Seitdem mischt sich insbesondere in den Großstädten wie Salzburg immer stärker ein Wiener Tonfall in den altbairischen Grunddialekt. Die meisten Salzburger zählen inzwischen ‘aans, zwaa, drei’, und nicht ‘oans, zwoa, drei’ wie im benachbarten Oberbayern—oder auch im Flachgau, der ländlichen Gegend nördlich Salzburgs. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis sich die Dialektgrenze ganz an die deutsch-österreichische Staatsgrenze schieben wird. Sie wird dann die heutigen politischen Verhältnisse widerspiegeln, und nicht mehr jene des Hochmittelalters.

In Wien wiederum gibt es immer weniger ‘echte’ Dialektsprecher. Stattdessen dominiert dort eine wienerisch lediglich angehauchte Version des Standarddeutschen. Eine treibende Kraft hinter diesem Wandel ist der österreichische Rundfunk, welcher dem österreichischen Hochdeutsch zu einer gewissen Dominanz verholfen hat  (siehe unten). Eine ähnliche Entwicklung gibt es in München, nur dass der münchner Dialekt vom bundesdeutschen Hochdeutsch verdrängt wird.

Was ist eigentlich ‘Hochdeutsch’?

Minnesang

Womit wir beim ‘Hochdeutschen’ sind—und damit bei einem häufig misverstandenen Begriff. In einer Verwendung ist er hier bereits vorgekommen: als Sammelname für alle mittel- und oberdeutschen Dialekte, zu denen auch das Bairische zählt. Gebräuchlicher aber ist eine zweite Verwendung: Hochdeutsch als “Hochsprache”, das “richtige” Deutsch, das Deutsch der Gebildeten. Dabei hält sich hartnäckig das Gerücht, das“‘reine“ Hochdeutsch komme aus der Gegend um Hannover—also aus dem niederdeutschen (!) Sprachgebiet.

Wie passt das zusammen? Um Verwirrung vorzubeugen ersetzen wir die ‘Hochsprachen‘-Verwendung durch ein anderes Wort: Standarddeutsch. D.h. ein Deutsch das allen Deutschsprechern als Maßstab und als überregionale Verkehrssprache dient.

In der deutschen Sprachgeschichte hat es zweimal eine Tendenz zur Herausbildung einer solchen Standardsprache gegeben.[5] Das erste mal war im Hochmittelalter zur Zeit der Staufer, ungefähr von 1150 bis 1250, als an den Fürstenhöfen eine kunstvolle Dichtung florierte: der Minnesang. Die Minnesänger schrieben in einer relativ einheitlichen ostfränkisch-schwäbischen Mischsprache; auch Dichter, die aus anderen Dialektregionen kamen. Mit dem Machtverlust der Staufer endete die Kultur, welche den Minnesang hervorbegracht hatte, und damit auch der erste Versuch der Sprachenstandardisierung.

Vater der deutschen Hochsprache: Martin Luther

Die Lutherbibel
Der zweite—und diesmal dauerhaft erfolgreiche—Versuch ist vor allem mit einem Namen verbunden: Martin Luther. Luther übersetzte zwischen 1522 und 1545 die Bibel ins Deutsche. Sprachlich orientierte er sich am obersächsisch-thüringischen Dialekt seiner Heimat, den Luther jedoch bewusst anpasste, um den Text auch für Bewohner anderer Gegenden verständlich zu machen.

In den protestantischen Regionen Deutschlands verbreitete sich die Lutherbibel rasant, und Luthers Schreibweise wurde schnell zum Standard—auch in Norddeutschland, wo man völlig andere Dialekte sprach. Tatsächlich war das niederdeutsche Platt vom Lutherdeutsch so weit entfernt, dass Norddeutsche die Sprache gewissermaßen neu lernen mußten. Zum ihrem Sprechstandard wurde so ein norddeutsch ausgesprochenes Obersächsisch; es verdrängte in den folgenden Jahrhunderten immer mehr den lokalen Dialekt. Heute gibt es nur in Schleswig Holstein noch eine größere Zahl von Plattdeutsch-Sprechern.

Der Weg des Südens zum Lutherdeutsch

In Süddeutschland und in Österreich tat man sich mit dem Lutherdeutsch an sich weniger schwer, schließlich basierte es auf einem verwandten hochdeutschen Dialekt. Die politische und religiösen Eliten aber—insbesondere die Orden der Jesuiten, Benediktiner und Augustiner—wehrten sich vehement gegen die Verbreitung des ‘protestantischen’ Deutsch in katholischen Landen. Um dies zu verhindern unternahmen sie mehrere Versuche, eine eigene oberdeutsche Schreibsprache zu etablieren.

Maria Theresia
Der Konflikt schwelte über 200 Jahre und wurde von beiden Seiten mit großer Leidenschaft geführt. Entschieden wurde er (vor allem) von zwei Faktoren. Zum einen erklärte ausgerechnet Kaiserin Maria Theresia 1774 den Unterricht in Lutherdeutsch für verbindlich an Österreichs Schulen, in der vom Leipziger Sprachforscher Johann Gottlieb Gottsched kodifizierten Form. Nach der Niederlage Österreichs im siebenjährigen Krieg (1756-63) konnte und wollte sie sich den Sprachenstreit nicht länger leisten. Andere katholische Länder wie das Kurfürstentum Baiern oder das Fürsterzbistum Salzburg zogen bald nach. 

Zum anderen schrieben die Dichter der Aufklärung und der einsetzenden Klassik—wie Lessing, Wieland oder Goethe—in luther-gottschedschem Deutsch. Das Prestige dieser Literatur war so hoch, dass auch das Bildungsbürgertum im Süden ihre Sprache übernahm und verbreitete. Seit dem späten 18. Jahrhundert ist der Status des luther-gottschedschen Deutsch als Sprachstandard unstrittig

Varietät(ch)en der Standardsprache

Oder ist er das? Standarddeutsch gilt offiziell als ‘polyzentrische Sprache‘, mit Verweis auf sogenannte ‘Varietäten‘: bundesdeutsches, österreichisches und schweizer Hochdeutsch.

Konrad Duden
Diese Varietäten sind recht neue Schöpfungen. Ihren Ursprung haben sie in Vereinheitlichungsbestrebungen nach Gründung des Deutschen Reiches, insbesondere durch das Rechtschreibwörterbuch von Konrad Duden (1880), das zugleich den deutschen Wortschatz normierte, und das Aussprachewörterbuch von Theodor Siebs (1898), welches ursprünglich die Artikulation an deutschsprachigen Theaterbühnen zu regulieren suchte. Duden und Siebs waren beides Norddeutsche und orientierten sich an norddeutschen Gepflogenheiten: seit Siebs gilt zum Beispiel „Könich“ als die korrekte Aussprache von „König“. 

Im oberdeutschen Sprachraum stießen diese Regelwerke auf Kritik. Duden, Siebs und ihre Nachfolger reagierten, indem sie Ausnahmen gestatteten. Diese orientierten sich aber nicht an den Dialekten—was sprachsystematisch am meisten Sinn gemacht hätte—sondern, ganz im Geist der Zeit, an den Nationalstaaten. Merkmale des Bairischen wurden für Österreich zugelassen aber nicht für Bayern, Besonderheiten des Schwäbisch-Alemannischen für die Schweiz aber nicht für Baden oder Württemberg.

Bestimmte Ausdrücke und Wörter gelten seitdem als 'Austrizismen' bzw. 'Helvetismen'. Festgehalten sind sie im österreichischen Wörterbuch—das seit 1950 vom österreichischen Bildungsministerium herausgegeben wird—und im schweizer Duden. Austrizismen sind dabei oft umgangssprachlich in (Alt-)bayern auch verbreitet, wie “das geht sich aus” (das klappt) oder “Du gehst mir ab” (ich vermisse Dich); als Standardsprache gelten sie aber nur in Österreich. Insgesamt sind die Abweichungen zwischen den Varietäten gering, denn alle beruhen auf dem Obersächsisch von Luther und Gottsched. 

Unterschiede gibt es beim Status des Standarddeutschen. In Österreich wird es oft parallel zum Dialekt gesprochen, ähnlich wie in Süddeutschland—und im Gegensatz zu Norddeutschland, wo das Standarddeutsche den Dialekt weitgehend verdrängt hat (siehe oben). Wieder anders liegen die Verhältnisse in der Schweiz: hier dominiert der Dialekt den Sprachgebrauch. Standarddeutsch, auch in der schweizer Varietät, empfinden viele Schweizer als Quasi-Fremdsprache.

Ein Sprach-Standardisierer

Als Aussprachenorm für das österreichische Standardeutsch hat sich eine an Siebs orientierte Sprechweise durchgesetzt, die angereichert ist durch einen moderaten wiener Zungenschlag: dunklere Vokale, weichere Konsonanten. Gepflegt wird diese Norm insbesondere vom ORF. Dies macht österreichische Moderatoren nicht nur gut verständlich, sie klingen auch unverschämt charmant (zumindest für meine Ohren)—im Vergleich zu ihren mitunter leicht unterkühlt wirkenden bundesdeutschen Gegenparts. 

Zusammenfassung

Dies ist ein langer Artikel, deswegen noch einmal die wichtigsten Punkte im Überblick.

·       Die deutsche Sprache und die deutschen Dialekte bildeten sich im Frühmittelalter

·       Die Grenzen der heutigen Dialekträume bilden grob die hochmittelalterlichen politischen Verhältnisse ab. Bairisch ist der Dialekt des mittelalterlichen Stammesherzogtum Baiern, das Teile des modernen Freistaates Bayern und der heutigen Republik Österreich umfaßte. Auch Variationen des Bairischen reflektieren mittelalterliche Abgrenzungen.

·       “Hochdeutsch” bezeichnete ursprünglich die Sprache der höher gelegenen Gegenden Deutschlands, Bayern eingeschlossen. Der Gegenbegriff ist Niederdeutsch.

·       Aus einem hochdeutschen Dialekt—Obersächsisch—entwickelte sich in der frühen Neuzeit die deutsche Standardsprache, Martin Luthers Bibelübersetzung bereitete die Initialzündung. Standardeutsch dient heute überall im deutschen Sprachraum als Verkehrssprache, mit nur geringfügigen Variationen.

·       Im weiten Teilen Norddeutschlands hat Standarddeutsch die lokalen, niederdeutschen Dialekte verdrängt und ersetzt—was den Fehlschluss provoziert, “Hochdeutsch” dem Norden zuzuordnen. Aus dem Norden kommt Hochdeutsch gerade nicht.

·       Anders als im Norden werden in Süddeutschland und Österreich Standardsprache und Dialekt oft parallel gesprochen. In der Schweiz hingegen dominiert der Dialekt den Sprachgebrauch.


[1] Die erste germanische Lautverschiebung fand in vorchristlicher Zeit statt und markiert die Abtrennung des Germanischen von anderen indogermanischen Sprachen.

[2] Es war keineswegs vorgezeichnet, dass Niederdeutsch heute mit Oberdeutsch einen gemeinsamen Sprachraum bildet und vom Niederfränkischen durch einen Hochsprachengrenze abgetrennt ist. Die Niederlande lösten sich im 16. und 17. Jahrhundert aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und entwickelten ihre eigene Standardsprache; ein Prozess, der parallel zur Verbreitung des Lutherdeutschen in Norddeutschland stattfand. D.h. die heutige Hochsprachengrenze zwischen Niederländisch und Deutsch reflektiert politische mehr als linguistische Entwicklungen.

[3] Dies sind zugleich die drei Hauptdialekte des Freistaates Bayern. Während nur noch ein Teil der Bevölkerung bairische Dialekte spricht, liegt fast der gesamte Freistaat weiterhin im oberdeutschen Sprachraum. Die wichtigste Ausnahme ist die Gegend um Aschaffenburg, wo die Sprache bereits hessisch bzw. rheinfränkisch gefärbt ist. Rheinfränkisch zählt zum Mitteldeutschen.

[4] Altbairisch mit “i”—altbayerisch mit “y” verweist auf die modernen Regierungsbezirke Oberbayern, Niederbayern und Oberpfalz, in Abgrenzung zu den fränkischen Bezirken und zu Bayerisch Schwaben.

[5] Darüber hinaus gab es regionale Bestrebungen zur Harmonisierung der Schriftsprache. Ein Beispiel ist die mittelniederdeutsche Sprache des 13.-17. Jahrhunderts, welche insbesondere der Hanse als Verkehrssprache diente. Sie wurde im 17. Jahrhundert vom Lutherdeutsch verdrängt.

Der Artikel stützt sich auf eine große Zahl von Quellen, die wichtigsten sind der DTV-Atlas zur deutschen Sprache und der kleine bayerische Sprachatlas. Sehr zum empfehlen ist auch 'Hubers Bairische Wortkunde'.

Bildnachweise (alle via Wikimedia Commons):

- 'Frühbajuwarische Fundstellen': El bes, CC BY 3.0

- 'Niederdeutsch und Hochdeutsch': basierend auf Vlaemink, CC BY-SA 4.0

- 'Bairische ("Boarische") Dialektvarianten': Mucalexx, copyrighted free use

- 'Nürnberg im bairischen Nordgau', Willi P, CC BY-SA 4.0

- 'Minnesang': Master of the Codex Manesse, public domain

- 'Die Lutherbibel': Lucas Cranach der Jüngere, public domain

- 'Maria Theresia': Jean-Étienne Liotard, public domain

- 'Konrad Duden': unknown, public domain

- 'Ein Sprach-Standardisierer': ORF, public domain