Montag, 27. Dezember 2021

Woher kamen sie nur? Das Rätsel der bairischen Herkunft

Ein historisches Rätsel—das vermutlich nie ganz gelöst werden kann—ist jenes des Ursprungs der Baiern. Im ganz frühen Mittelalter, um 550 nach Christus, sind sie plötzlich da, besiedeln den Landstrich zwischen Alpen und Donau, zwischen Lech und Enns (heute der Grenzfluß zwischen Ober- und Niederösterreich). Wie sind sie da nur hingekommen?

Baiern Mitte des 6. Jahrhunderts

Ungefähres bairisches Siedlungsgebiet um 550 nach
Christus (mit den heutigen St
ädten und Grenzen)
Westlich der Baiern leben die Alemannen unter der Oberherrschaft
 der mächtigen Franken: beides germanische Stämme die— im Gegensatz zu den Baiern—aus der Spätantike wohlbekannt sind. Nachbarn im Osten—also im heutigen Niederösterreich und der angrenzenden ungarischen Tiefebene—sind zunächst die Langobarden, ein weiterer germanischer Stamm, der 568 nach Italien abzieht (und dort allmählich in der lokalen Bevölkerung aufgeht). Ersetzt werden sie durch die Awaren, ein aus Zentralasien stammendes Reitervolk und ein eher ungemütlicher Nachbar, der einer bairischen Expansion nach Osten jahrhundertelang im Weg steht.

Wer die Nachbarn der Ur-Baiern im Süden und im Norden sind ist weniger klar. Die Alpentäler sind zunächst wohl noch von romanischen Gruppen besiedelt, Baiern breiten sich dort erst im 7. und 8. Jahrhundert aus (und manche Romanen leben dort bis heute, wie die Ladiner in Südtirol). Nördlich der Donau herrschten bis 531 die Thüringer, bis sie von den Franken besiegt wurden—wer das Land danach bewohnt hat ist nicht bekannt. Bairische Spuren finden sich in den heutigen Oberpfalz erst ab dem späten 7. Jahrhundert.

Der Baiernherzog residiert in der alten römischen Legionsstadt Regensburg, also im äußersten Norden seines Herrschaftsgebietes. Er stammt aus der Geschlecht der Agilolfinger, einer wahrscheinlich fränkischen Adelsfamilie, die auch in Alemannien den Herzog stellt.

So präsentieren sich die Baiern erstmals der Weltgeschichte. Doch wo kamen sie her? Die Klärung der Frage gleicht einem Puzzlespiel, bei dem zwar viele Teile vorhanden sind und sich auch zusammensetzen lassen—andere, wichtige Teile aber fehlen. Die Formung eines Gesamtbildes erfordert deswegen ein Stück Interpretation,

Die Vorgeschichte

Bis 476 nach Christus gehörte das spätere bairische Siedlungsgebiet zum (west-)römischen Reich, genau zu den Provinzen Rätien—westlich des Inns—und Noricum—östlich. Die Kontrolle über das Voralpenland war essentiell für die Sicherheit Italiens, weshalb Rom in den Aufbau einer schlagkräftigen Zivil- und Militärverwaltung investierte. Ihren Höhepunkt erreichte die römische Macht im Voralpenland um das Jahr 200 nach Christus.

Rätien und westliches Noricum

Im 5. Jahrhundert allerdings war die Autorität Roms nur noch ein Schatten ihres einstigen Glanzes. Zermürbt von wiederholten Germaneneinfällen hatte sich die romanisch-keltische Bevölkerung in befestigte Städte zurückgezogen, wie etwa Regensburg (Castra Regina), Passau (Batava) oder Salzburg (Iovanum). Das Land war dünn besiedelt, von den einst zahlreichen römischen Landgütern (villa rustica) waren nur noch wenige übrig. Auch die römische Armee besaß nur noch einen Bruchteil ihrer einstigen Stärke und bestand zu einem großen Teil aus germanischen Söldern.

488 schließlich befahl Odoaker—ein römischer Offizier germanischer Abstammung, der 476 den letzten weströmischen Kaiser abgesetzt hatte—das Voralpenland aufzugeben, und ordnete den Abzug der römischen Provinzialtruppen nach Italien an. Wieviel Militär tatsächlich abzog ist unklar, die Provinz Noricum verließen wahrscheinlich mehr Soldaten als das bereits arg vernachlässigte Rätien. Ebenso unklar ist, wieviele Zivilisten den Truppen folgten—bestimmt nicht alle, denn eine romanische Rest-Bevölkerung läßt sich in Baiern bis mindestens ins 10. Jahrhundert nachweisen. Von dem Befehl Odoakers an wissen wir 70 Jahre lang: fast nichts. Es gibt keine historischen Aufzeichnungen oder anderweitigen schriftlichen Zeugnisse. Die bescheidenen archäologischen Funde sind schwer zuzuordnen und lassen Spielraum für Interpretation.

Mittel- und Westeuropa zu Zeiten Theoderichs
(grün: Frankenreich)
Bekannt sind lediglich die groben Parameter der politischen Ordnung. Oberbefehlshaber über das Voralpenland war ab 493 der Ostgotenkönig Theoderich der Große. Dieser bot 507 den Alemannen Schutz in Rätien an, nachdem jene mehrere Schlachten gegen die Franken verloren hatten. Auch setzte er einen Präfekten für Rätien ein. Wie sehr sich Theoderich von seinem Regierungssitz in Ravenna allerdings tatsächlich um das Voralpenland kümmern konnte ist unbekannt. 536 überließ Witichs—ein Nachfolger Theoderichs—dann das gesamte Gebiet nördlich der Alpen den Franken, um sich den Rücken freizuhalten für die Auseinandersetzung der Ostgoten mit dem mächtigen Byzanz.

15 Jahre später erwähnt ein in Konstantinopel ansässiger Schriftsteller (vermutlich) ostgotischer Herkunft—Jordanes—dann erstmals die Baiovaren; beiläufig und wie selbstverständlich als östliche Nachbarn der Sueben (=Alemannen).

Der Mythos von der großen Zuwanderung

Dieses plötzliche Auftreten am Ende der Völkerwanderungszeit, während der viele Stämme und Völker ihren Lebensraum wechselten, nährte einst den Verdacht, die Baiern müssten zugewandert sein—eine These die insbesondere im 19. Jahrhundert populär war. Der Name „Bajuwaren“ erhärtete den Verdacht: er läßt sich lesen als „Leute aus Baja“, und Baja kann—mit etwas Phantasie—als „Böhmen“ gedeutet werden. Die sprachlichen Parallelen machten insbesondere die Bojer zu Kandidaten, Vorgängervolk der Baiern gewesen zu sein: ein keltischer Stamm, der um Christi Geburt an verschiedenen Orten in Mitteleuropa gelebt hatte, dabei sowohl Römern als auch antiken germanischen Stämmen (Kimbern, Teutonen, Ambronen) einiges Kopfzerbrechen bereitet hatte, und möglicherweise Bajas Namensgeber gewesen war.
Siedlungsraum der Boier 

Zwischen dem Verschwinden der Boier und dem Auftreten der Baiern liegen allerdings mehr als 500 Jahre—zu lange für eine plausible historische Verbindung. Außerdem waren die frühen Baiern eindeutig Germanen, nicht Kelten. Als Alternativ-Ahnen kamen die Markomannen in Betracht: ein germanischer Stamm, in dem der böhmische Teil der Bojer einst aufgegangen war. Auch diese These enthält jedoch ihre Ungereimtheiten, denn die meisten Markomannen zogen bereits um das Jahr 400 aus Böhmen ab, und in Richtung Pannonien (Ungarn), nicht Rätien.

Den Garaus bereitete den Zuwanderungsthesen—zumindest in Kreisen der Wissenschaft—aber der archäologische Befund. Mehrere Friedhöfe aus dem 5. bis 7. Jahrhundert, welche in den vergangenen Jahrzehnten untersucht worden sind, deuten auf Kontinuität hin, nicht auf einen plötzlichen Bruch, welchen ein Austausch der Bevölkerung hätte verursachen müsste. Zwar gab es fraglos Zuwanderung in den späteren bairischen Siedlungsraum, überwiegend—wenn auch nicht nur—von Germanen (manche Grabbeilagen und DNA-Analysen deuten auf osteuropäische oder sogar zentralasiatische Verbindungen). Doch diese Zuwanderung fand kontinuierlich und über einen langen Zeitraum statt: sie begann bereits zur Römerzeit, und setzte sich ohne sonderliche Beschleunigung in der aufzeichnungsfreien Periode zwischen 488 und 551 fort.

Baiern und Alemannen

Ein weiteres Puzzleteil ist die Sprache der frühen Baiern: diese ist bis ins 12. Jahrhundert hinein nämlich praktisch nicht zu unterscheiden von der Sprache ihrer westlichen Nachbarn, den Alemannen. Waren die Baiern also lediglich eine Abspaltung der Alemannen?

Eine solche Frage basiert auf einem Misverständnis. Man darf sich die Baiern des 6. Jahrhunderts (noch) nicht als „Stamm“ im heutigen Wortsinn vorzustellen: als eine klar identifizierbare Bevölkerungsgruppe, die gekennzeichnet ist durch eigene Traditionen und, vor allem, eine eigene Art zu sprechen. Diese Form der Stammesbildung fand erst später statt, im Hoch- und Spätmittelalter, als Menschen über mehrere Generationen am gleichen Ort seßhaft waren und starke regionale Identitäten formen konnten.

In der Völkerwanderungszeit hingegen war „Stamm“ häufig ein politischer mehr als ein ethnischer Begriff. Stämme zerfielen, gingen in anderen Stämmen auf und formierten sich neu, durch den Zusammenschluss verschiedener Gruppen unter einer gemeinsamen Führung. Die Franken etwa entstanden auf diese Weise im dritten nachchristlichen Jahrhundert im Nordwesten Europas; ebenso zur etwa gleichen Zeit die Alemannen weiter im Süden. „Alamannen“ bedeutete ursprünglich nichts weiter als „alle Männer“: eben jene Männer, die sich an den Unternehmungen des neuen Stammes beteiligten.

Auch das Entstehen Baierns war zunächst wohl ein politischer Akt; die Frage ist, wann und weshalb er stattfand.

Ein Versuch, das Puzzle zu vervollständigen

Theoderich der Große
Soviel zu den vorhandenen Puzzleteilen. Wie passen sie zusammen? An dieser Stelle muss notwendig Spekulation die verbliebenen Lücken ausfüllen. Hier ist die mir am plausibelsten erscheinende Version.[1]

  • Baierns frühmittelalterliche Bevölkerung formte sich über Jahrhunderte (siehe oben), durch den schrittweisen Zuzug germanischer Siedler und den Rückgang der—bis ins 4. nachchristliche Jahrhundert bestimmenden—romanisch-keltischen Bevölkerung. Zum Zeitpunkt des ersten Auftretens der Baiern war ihre Kultur jener der benachbarten Alemannen sehr ähnlich. Ein Grund hierfür liegt vermutlich in der Regierungszeit des Ostgotenkönigs Theoderich des Großen im frühen 6. Jahrhundert, als jener den Alemannen Rätien als Rückzugsgebiet anbot. Theoderich kann somit als ein Pate Baierns gelten.

  • Die Bajuwaren als Vasallen der Franken
    Politisch ist Baiern wahrscheinlich eine Schöpfung der Franken. 536/37 fiel jenen die Gegend—bis dahin ostgotische Provinz—kampflos zu, sie war aber zu weit vom fränkischen Siedlungsgebiet am Niederrhein entfernt, um direkt die Kontrolle zu übernehmen. Stattdessen installierten die Franken—es muss wohl der austrasische Teilkönig Theudebert I. gewesen sein—einen abhängigen Herzog aus fränkischer Familie, der die Neuerwerbung verwalten sollte. Theudebert wäre damit der zweite Baiern-Pate.

  • Unklar bleibt, warum das neue politische Gebilde den Namen „Baiern“ bekam. Vielleicht versuchten die neuen Herrscher, mit dem Verweis auf ein antikes Land Baja einen Schöpfungsmythos zu begründen, der sie von Alemannen, Langobarden, Thüringern und anderen Nachbarn unterschied. Wem auch immer dieser Mythos eingefallen ist: er wäre der dritte Pate (ihm käme dann auch das Verdienst zu, Generationen von Bavarologen in die Irre geführt zu haben—die viel mehr in den Namen hineinlasen).

  • Mit (oder kurz vor) diesem ersten Auftreten der Baiovaren endete nicht etwa das Ausbilden einer bairischen Identität. Zutrifft das genaue Gegenteil: der Prozess hatte gerade erst begonnen. Zu den Baiern bzw. Bayern, wie wir sie heute kennen, sollten sich die Baiovaren erst in den darauffolgenden Jahrhunderten entwickeln.


[1] An dieser Stelle sei angemerkt dass der Autor  weder Historiker noch Archäologe noch Philologe ist. Die Spekulationen sind also die eines Laien und beanspruchen keinerlei Autorität. 

Die Hauptquellen für diesen Artikel sind Fachaufsätze in den folgenden Sammelbänden: Alois Schmid (Hg.) : 'Das alte Bayern. Von der Vorgeschichte bis zum Hochmittelalter' (2017) und Hubert Fehr & Irmtraut Heitmeier (Hg.): 'Die Anfänge Bayerns. Von Raetien und Noricum bis zur frühmittelaterlichen Baiovaria' (2014).

Bildnachweise:
- 'Ungefähres Siedlungsgebiet der Baiern um 550 nach Christus': eigene Arbeit
- 'Rätien und westliches Noricum': Marco Zanoli (wikimedia commons)
- 'Mittel- und Westeuropa zu Zeiten Theoderichs', 'Die Bajuwaren als Vasallen der Franken': alteileopard (wikimedia commons)
- 'Siedlungsraum der Boier': Dbachmann (wikimedia commons)
- 'Theoderich der Große': wikimedia commons