Montag, 27. Dezember 2021

Woher kamen sie nur? Das Rätsel der bairischen Herkunft

Ein historisches Rätsel—das vermutlich nie ganz gelöst werden kann—ist jenes des Ursprungs der Baiern. Im ganz frühen Mittelalter, um 550 nach Christus, sind sie plötzlich da, besiedeln den Landstrich zwischen Alpen und Donau, zwischen Lech und Enns (heute der Grenzfluß zwischen Ober- und Niederösterreich). Wie sind sie da nur hingekommen?

Baiern Mitte des 6. Jahrhunderts

Ungefähres bairisches Siedlungsgebiet um 550 nach
Christus (mit den heutigen St
ädten und Grenzen)
Westlich der Baiern leben die Alemannen unter der Oberherrschaft
 der mächtigen Franken: beides germanische Stämme die— im Gegensatz zu den Baiern—aus der Spätantike wohlbekannt sind. Nachbarn im Osten—also im heutigen Niederösterreich und der angrenzenden ungarischen Tiefebene—sind zunächst die Langobarden, ein weiterer germanischer Stamm, der 568 nach Italien abzieht (und dort allmählich in der lokalen Bevölkerung aufgeht). Ersetzt werden sie durch die Awaren, ein aus Zentralasien stammendes Reitervolk und ein eher ungemütlicher Nachbar, der einer bairischen Expansion nach Osten jahrhundertelang im Weg steht.

Wer die Nachbarn der Ur-Baiern im Süden und im Norden sind ist weniger klar. Die Alpentäler sind zunächst wohl noch von romanischen Gruppen besiedelt, Baiern breiten sich dort erst im 7. und 8. Jahrhundert aus (und manche Romanen leben dort bis heute, wie die Ladiner in Südtirol). Nördlich der Donau herrschten bis 531 die Thüringer, bis sie von den Franken besiegt wurden—wer das Land danach bewohnt hat ist nicht bekannt. Bairische Spuren finden sich in den heutigen Oberpfalz erst ab dem späten 7. Jahrhundert.

Der Baiernherzog residiert in der alten römischen Legionsstadt Regensburg, also im äußersten Norden seines Herrschaftsgebietes. Er stammt aus der Geschlecht der Agilolfinger, einer wahrscheinlich fränkischen Adelsfamilie, die auch in Alemannien den Herzog stellt.

So präsentieren sich die Baiern erstmals der Weltgeschichte. Doch wo kamen sie her? Die Klärung der Frage gleicht einem Puzzlespiel, bei dem zwar viele Teile vorhanden sind und sich auch zusammensetzen lassen—andere, wichtige Teile aber fehlen. Die Formung eines Gesamtbildes erfordert deswegen ein Stück Interpretation,

Die Vorgeschichte

Bis 476 nach Christus gehörte das spätere bairische Siedlungsgebiet zum (west-)römischen Reich, genau zu den Provinzen Rätien—westlich des Inns—und Noricum—östlich. Die Kontrolle über das Voralpenland war essentiell für die Sicherheit Italiens, weshalb Rom in den Aufbau einer schlagkräftigen Zivil- und Militärverwaltung investierte. Ihren Höhepunkt erreichte die römische Macht im Voralpenland um das Jahr 200 nach Christus.

Rätien und westliches Noricum

Im 5. Jahrhundert allerdings war die Autorität Roms nur noch ein Schatten ihres einstigen Glanzes. Zermürbt von wiederholten Germaneneinfällen hatte sich die romanisch-keltische Bevölkerung in befestigte Städte zurückgezogen, wie etwa Regensburg (Castra Regina), Passau (Batava) oder Salzburg (Iovanum). Das Land war dünn besiedelt, von den einst zahlreichen römischen Landgütern (villa rustica) waren nur noch wenige übrig. Auch die römische Armee besaß nur noch einen Bruchteil ihrer einstigen Stärke und bestand zu einem großen Teil aus germanischen Söldern.

488 schließlich befahl Odoaker—ein römischer Offizier germanischer Abstammung, der 476 den letzten weströmischen Kaiser abgesetzt hatte—das Voralpenland aufzugeben, und ordnete den Abzug der römischen Provinzialtruppen nach Italien an. Wieviel Militär tatsächlich abzog ist unklar, die Provinz Noricum verließen wahrscheinlich mehr Soldaten als das bereits arg vernachlässigte Rätien. Ebenso unklar ist, wieviele Zivilisten den Truppen folgten—bestimmt nicht alle, denn eine romanische Rest-Bevölkerung läßt sich in Baiern bis mindestens ins 10. Jahrhundert nachweisen. Von dem Befehl Odoakers an wissen wir 70 Jahre lang: fast nichts. Es gibt keine historischen Aufzeichnungen oder anderweitigen schriftlichen Zeugnisse. Die bescheidenen archäologischen Funde sind schwer zuzuordnen und lassen Spielraum für Interpretation.

Mittel- und Westeuropa zu Zeiten Theoderichs
(grün: Frankenreich)
Bekannt sind lediglich die groben Parameter der politischen Ordnung. Oberbefehlshaber über das Voralpenland war ab 493 der Ostgotenkönig Theoderich der Große. Dieser bot 507 den Alemannen Schutz in Rätien an, nachdem jene mehrere Schlachten gegen die Franken verloren hatten. Auch setzte er einen Präfekten für Rätien ein. Wie sehr sich Theoderich von seinem Regierungssitz in Ravenna allerdings tatsächlich um das Voralpenland kümmern konnte ist unbekannt. 536 überließ Witichs—ein Nachfolger Theoderichs—dann das gesamte Gebiet nördlich der Alpen den Franken, um sich den Rücken freizuhalten für die Auseinandersetzung der Ostgoten mit dem mächtigen Byzanz.

15 Jahre später erwähnt ein in Konstantinopel ansässiger Schriftsteller (vermutlich) ostgotischer Herkunft—Jordanes—dann erstmals die Baiovaren; beiläufig und wie selbstverständlich als östliche Nachbarn der Sueben (=Alemannen).

Der Mythos von der großen Zuwanderung

Dieses plötzliche Auftreten am Ende der Völkerwanderungszeit, während der viele Stämme und Völker ihren Lebensraum wechselten, nährte einst den Verdacht, die Baiern müssten zugewandert sein—eine These die insbesondere im 19. Jahrhundert populär war. Der Name „Bajuwaren“ erhärtete den Verdacht: er läßt sich lesen als „Leute aus Baja“, und Baja kann—mit etwas Phantasie—als „Böhmen“ gedeutet werden. Die sprachlichen Parallelen machten insbesondere die Bojer zu Kandidaten, Vorgängervolk der Baiern gewesen zu sein: ein keltischer Stamm, der um Christi Geburt an verschiedenen Orten in Mitteleuropa gelebt hatte, dabei sowohl Römern als auch antiken germanischen Stämmen (Kimbern, Teutonen, Ambronen) einiges Kopfzerbrechen bereitet hatte, und möglicherweise Bajas Namensgeber gewesen war.
Siedlungsraum der Boier 

Zwischen dem Verschwinden der Boier und dem Auftreten der Baiern liegen allerdings mehr als 500 Jahre—zu lange für eine plausible historische Verbindung. Außerdem waren die frühen Baiern eindeutig Germanen, nicht Kelten. Als Alternativ-Ahnen kamen die Markomannen in Betracht: ein germanischer Stamm, in dem der böhmische Teil der Bojer einst aufgegangen war. Auch diese These enthält jedoch ihre Ungereimtheiten, denn die meisten Markomannen zogen bereits um das Jahr 400 aus Böhmen ab, und in Richtung Pannonien (Ungarn), nicht Rätien.

Den Garaus bereitete den Zuwanderungsthesen—zumindest in Kreisen der Wissenschaft—aber der archäologische Befund. Mehrere Friedhöfe aus dem 5. bis 7. Jahrhundert, welche in den vergangenen Jahrzehnten untersucht worden sind, deuten auf Kontinuität hin, nicht auf einen plötzlichen Bruch, welchen ein Austausch der Bevölkerung hätte verursachen müsste. Zwar gab es fraglos Zuwanderung in den späteren bairischen Siedlungsraum, überwiegend—wenn auch nicht nur—von Germanen (manche Grabbeilagen und DNA-Analysen deuten auf osteuropäische oder sogar zentralasiatische Verbindungen). Doch diese Zuwanderung fand kontinuierlich und über einen langen Zeitraum statt: sie begann bereits zur Römerzeit, und setzte sich ohne sonderliche Beschleunigung in der aufzeichnungsfreien Periode zwischen 488 und 551 fort.

Baiern und Alemannen

Ein weiteres Puzzleteil ist die Sprache der frühen Baiern: diese ist bis ins 12. Jahrhundert hinein nämlich praktisch nicht zu unterscheiden von der Sprache ihrer westlichen Nachbarn, den Alemannen. Waren die Baiern also lediglich eine Abspaltung der Alemannen?

Eine solche Frage basiert auf einem Misverständnis. Man darf sich die Baiern des 6. Jahrhunderts (noch) nicht als „Stamm“ im heutigen Wortsinn vorzustellen: als eine klar identifizierbare Bevölkerungsgruppe, die gekennzeichnet ist durch eigene Traditionen und, vor allem, eine eigene Art zu sprechen. Diese Form der Stammesbildung fand erst später statt, im Hoch- und Spätmittelalter, als Menschen über mehrere Generationen am gleichen Ort seßhaft waren und starke regionale Identitäten formen konnten.

In der Völkerwanderungszeit hingegen war „Stamm“ häufig ein politischer mehr als ein ethnischer Begriff. Stämme zerfielen, gingen in anderen Stämmen auf und formierten sich neu, durch den Zusammenschluss verschiedener Gruppen unter einer gemeinsamen Führung. Die Franken etwa entstanden auf diese Weise im dritten nachchristlichen Jahrhundert im Nordwesten Europas; ebenso zur etwa gleichen Zeit die Alemannen weiter im Süden. „Alamannen“ bedeutete ursprünglich nichts weiter als „alle Männer“: eben jene Männer, die sich an den Unternehmungen des neuen Stammes beteiligten.

Auch das Entstehen Baierns war zunächst wohl ein politischer Akt; die Frage ist, wann und weshalb er stattfand.

Ein Versuch, das Puzzle zu vervollständigen

Theoderich der Große
Soviel zu den vorhandenen Puzzleteilen. Wie passen sie zusammen? An dieser Stelle muss notwendig Spekulation die verbliebenen Lücken ausfüllen. Hier ist die mir am plausibelsten erscheinende Version.[1]

  • Baierns frühmittelalterliche Bevölkerung formte sich über Jahrhunderte (siehe oben), durch den schrittweisen Zuzug germanischer Siedler und den Rückgang der—bis ins 4. nachchristliche Jahrhundert bestimmenden—romanisch-keltischen Bevölkerung. Zum Zeitpunkt des ersten Auftretens der Baiern war ihre Kultur jener der benachbarten Alemannen sehr ähnlich. Ein Grund hierfür liegt vermutlich in der Regierungszeit des Ostgotenkönigs Theoderich des Großen im frühen 6. Jahrhundert, als jener den Alemannen Rätien als Rückzugsgebiet anbot. Theoderich kann somit als ein Pate Baierns gelten.

  • Die Bajuwaren als Vasallen der Franken
    Politisch ist Baiern wahrscheinlich eine Schöpfung der Franken. 536/37 fiel jenen die Gegend—bis dahin ostgotische Provinz—kampflos zu, sie war aber zu weit vom fränkischen Siedlungsgebiet am Niederrhein entfernt, um direkt die Kontrolle zu übernehmen. Stattdessen installierten die Franken—es muss wohl der austrasische Teilkönig Theudebert I. gewesen sein—einen abhängigen Herzog aus fränkischer Familie, der die Neuerwerbung verwalten sollte. Theudebert wäre damit der zweite Baiern-Pate.

  • Unklar bleibt, warum das neue politische Gebilde den Namen „Baiern“ bekam. Vielleicht versuchten die neuen Herrscher, mit dem Verweis auf ein antikes Land Baja einen Schöpfungsmythos zu begründen, der sie von Alemannen, Langobarden, Thüringern und anderen Nachbarn unterschied. Wem auch immer dieser Mythos eingefallen ist: er wäre der dritte Pate (ihm käme dann auch das Verdienst zu, Generationen von Bavarologen in die Irre geführt zu haben—die viel mehr in den Namen hineinlasen).

  • Mit (oder kurz vor) diesem ersten Auftreten der Baiovaren endete nicht etwa das Ausbilden einer bairischen Identität. Zutrifft das genaue Gegenteil: der Prozess hatte gerade erst begonnen. Zu den Baiern bzw. Bayern, wie wir sie heute kennen, sollten sich die Baiovaren erst in den darauffolgenden Jahrhunderten entwickeln.


[1] An dieser Stelle sei angemerkt dass der Autor  weder Historiker noch Archäologe noch Philologe ist. Die Spekulationen sind also die eines Laien und beanspruchen keinerlei Autorität. 

Die Hauptquellen für diesen Artikel sind Fachaufsätze in den folgenden Sammelbänden: Alois Schmid (Hg.) : 'Das alte Bayern. Von der Vorgeschichte bis zum Hochmittelalter' (2017) und Hubert Fehr & Irmtraut Heitmeier (Hg.): 'Die Anfänge Bayerns. Von Raetien und Noricum bis zur frühmittelaterlichen Baiovaria' (2014).

Bildnachweise:
- 'Ungefähres Siedlungsgebiet der Baiern um 550 nach Christus': eigene Arbeit
- 'Rätien und westliches Noricum': Marco Zanoli (wikimedia commons)
- 'Mittel- und Westeuropa zu Zeiten Theoderichs', 'Die Bajuwaren als Vasallen der Franken': alteileopard (wikimedia commons)
- 'Siedlungsraum der Boier': Dbachmann (wikimedia commons)
- 'Theoderich der Große': wikimedia commons

Donnerstag, 29. Juli 2021

Bayern und Österreich


Zum bayerischen Selbstverständnis gehört die Nähe zu Österreich. Zumindest Altbayern betonen gerne, dass sie mit Österreichern mehr gemein h
ätten als mit den Preissn in Norden. Und auch Österreicher nehmen Bayern, zumindest wenn sie gnädig gestimmt sind, vom „Piefke“tum aus, einer abfälligen Bezeichnung für alles (Nord-)deutsche. Wieviel Gemeinsames gibt es zwischen Bayern und Österreich wirklich? Und wo liegen die Wurzeln der (Seelen-)Verwandtschaft? 

Sprache: Österreich ist bairischer als Bayern 

Das Offensichliche zuerst: die sprachliche Verwandschaft zwischen Bayern und Österreich ist nicht zu überhören. Mehr als die Hälfte der Bewohner des Freistaates leben im bairischen Sprachraum; die altbayerischen Regierungszbezirke Oberbayern, Niederbayern und Oberpfalz gehören ihm fast vollständig an (aber auch im Sechsämterland in Oberfranken z.B. wird überwiegend bairisch gesprochen). In Österreich sind es sogar über 95 Prozent der Bevölkerung. Mehr noch, in Altbayern wie in Österreich dominieren mittelbairische Dialekte. Sie werden in fast allen großen Städten gesprochen: in München ebenso wie in Wien, in Graz genauso wie in Regensburg, in Linz wie in Ingolstadt.

Münchner und Wiener etwa verstehen einander in der Regel problemlos. Einige Vokale sprechen sie anders aus: wo in Wien ein „Schpüi“ (Spiel) stattfindet ist es in München ein „Schpui“, und was in München „hoaßt“ heißt heißt in Wien „haaßt“. Auch reimt sich „Schpoat“ (Sport) auf „hoat“ (hart) nur in Wien (Reinhard Fendrich). Und es gibt natürlich lokalen Slang: „leiwand“ (großartig) ist das Leben in Wien, in München ist es eher „griabig“ (gemütlich). Aber das sind kleine Unterschiede. 

Größer ist die sprachliche Distanz der mittelbairischen Dialekte zum Nordbairischen der (nördlichen) Oberpfalz und zum Südbairischen Tirols und Kärntens—oder gar zum Ostfränkischen der fränkischen Regierungsbezirke oder dem Alemannischen Vorarlbergs. Aber solche Unterschiede sind ebenso groß innerhalb Bayerns und Österreichs wie zwischen ihnen.

Der bairische Sprachraum
Der bairische Sprachraum




















 ... das Ergebnis einer gemeinsamen, frühmittelalterlichen Wurzel.

Wenn man Geschichte vom Ausgangs- (und nicht vom End-)punkt betrachtet, dann macht es durchaus Sinn, von einer gemeinsamen bayerisch-österreichischen Geschichte zu sprechen. Sie beginnt mit dem frühmittelalterlichen Herzogtum Baiern und manifestiert sich heute in zwei Nachfolgestaaten: dem Freistaat Bayern und der Republik Österreich. 

Österreichs Ursprung ist der einer bairischen Kolonie. Mitte des 6. nachchristlichen Jahrhunderts tauchte das Stammesherzogtum Baiern aus dem Nebel der Völkerungswanderungszeit auf und belegte den Raum zwischen Donau, Alpen, Lech und Enns—bis heute wissen wir nicht genau, wo, wie und wann es sich geformt hat. In den darauffolgenden Jahrhunderten drangen bairische Siedler in benachbarte Gebiete vor—zunächst nach Süden und Norden, dann in mehreren Schüben nach Osten und Südosten, in vormals von Awaren und Slawen beherrschtes Gebiet.[1] Die Siedler errichteten sogenannte Grenzmarken: autonome Provinzen die von einem Markgrafen verwaltet wurden, den Baiernherzögen in Regensburg aber unterstellt blieben.

Die Grenze zwischen dem frühmittelalterlichen ’Altbaiern’—dem Gebiet des bairischen Stammesherzogtums um ca. 700, welches grob die heutigen altbayrischen Regierungsbezirke umfasste, aber auch Tirol, Salzburg und den Großteil Oberösterreichs—und den ‘Neubaiern’ in Niederösterreich, Kärnten und der Steiermark lässt sich heute noch auf Dialektkarten ablesen: siehe die blau gestrichelte Linie auf der Karte oben. 

Stammesherzogtum: Kern und Erweiterungen
Schon im 10. Jahrhundert—also vor über 1000 Jahren—aber begannen die Kolonisten sich abzusetzen. Zuerst erlangte Kärnten 976 Unabhängigkeit, unter Mithilfe des deutsch-sächsischen Kaisers Otto II, dem die bairische Machtkonzentration im Südosten des Reiches unheimlich geworden war. Der Ostmark—die auch "Ostarrichi" genannt wurde und in etwa dem heutigen Niederösterreich enstprach—standen die Baiernherzöge zwar noch fast 200 weitere Jahre vor, sie agierte aber zunehmend eigenständig und erreichte schließlich als Herzogtum Österreich 1156 ebenfalls Unabhängigkeit, mit Wien als Hauptstadt. Erneut stand einer deutscher Kaiser Pate bei der Geburt, diesmal ein Schwabe: Friedrich I. Barbarossa.

Ab dem späten Mittelalter: Österreich wächst Baiern über den Kopf

Von da an drehte sich die Expansionsrichtung um: Österreich vereinigte nicht nur die ehemaligen Grenzmarken, es verleibte sich auch schrittweise altbairische Gebiete ein. Linz etwa ging dem Herzogtum Baiern 1210 verloren. Ein besonderer Coup gelang den Habsburgern—sie regierten seit 1282 in Wien—1363 mit der Erwerbung Tirols. Überhaupt setzte sich die expandierende Habsburger-Großmacht meist gegenüber dem bairischen Herzogtum durch, auch weil letzteres häufig von internem Zwist geplagt wurde—zwischen 1255 und 1505 war es gar in mehrere Teil-Herzogtümer aufgeteilt. Gerade aus solchen Erbstreitigkeiten schlug Österreich immer wieder territorialen Gewinn. 

Innviertel
Eine letzte größere Erwerbung gelang Österreich 1779 mit dem Innviertel, einem ca. 90 Kilometer langen und 30 Kilometer breiten Steifen südwestlich von Passau. Um ein Haar wäre Baiern Ende des 18. Jahrhunderts sogar ganz an Österreich gefallen: denn nur zu gern hätte der in Brüssel aufgewachsene Kurfürst Karl Theodor das Angebot des Habsburger-Kaisers Joseph II. angenommen, Altbayern gegen die Österreichischen Niederlande einzutauschen (in etwa das heutige Belgien). Ein Machtwort Preußens verhinderte den Tausch.

Versuche Baierns, das Blatt zu wenden und Österreich aus altbairischem Gebiet herauszudrängen gab es zwar immer wieder, sie schlugen aber meist fehl. Den letzten Anlauf unternahmen Kurfürst Maximilian IV. (der Nachfolger Karl Theodors) und sein Minister Montgelas 1805, als sie mit Napoleons Hilfe Tirol annektierten. Die Tiroler aber sahen sich schon lange nicht mehr als Baiern und rebellierten unter Volksheld Andreas Hofer gegen die Fremdherrschaft. Nach der Niederlage Napoleons bestand Österreich erfolgreich auf Rückgabe, außerdem verleibte es sich Salzburg ein: seit dem Frühmittelalter Sitz des bairischen Erzbischofs und damit gewissermaßen die geistliche Hauptstadt des alten Baiern. Salzburg hatte 1328—während einer der vielen Schwächephasen des bairischen Herzogtums—Eigenständigkeit als Fürstbistum erlangt, und sich dann fast 500 Jahre lang als Pufferstaat zwischen Baiern und Österreich gehalten.

Anders als die meisten ihrer Vorgänger aber wussten Maximilian IV. und Montgelas sich zu helfen. Für die Verluste hielten sie sich in Franken und Schwaben schadlos—was den Charakter Baierns nachhaltig veränderte. Aus dem einstigen Stammesherzogtum wurde das Königreich ‘Bayern’, ein süddeutscher Territorialstaat mit sprachlich und religiös gemischter Bevölkerung.
 
Gemeinsames, aber auch viel Eigenes

Bei allen sprachlichen und historischen Gemeinsamkeiten zwischen Bayern und Österreich ist allerdings unverkennbar, dass sich in 900 Jahren eigenständiger Geschichte auch große Unterschiede  herausgebildet haben. Das Spätmittelalter, Reformation, Aufklärung und Absolutismus, das Zeitalter der Nationalstaaten, die industrielle Revolution und das 20. Jahrhundert—das meiste haben sie getrennt durchlebt und dabei eigene Traditionen geformt. 

Wiener Hofburg, Münchner Residenz
Am deutlichsten zeigt sich dies vielleicht an den Hauptstädten, München und Wien. Beide erlangten ihre heutige Bedeutung erst lange nach der Abspaltung Österreichs vom Stammesherzogtum. Und beide sind ihrem Selbstverständnis nach Residenzstädte: politischer und kultureller Mittelpunkt des jeweiligen Landes, in deren Glanz und Prestige monarchische wie republikanische Landesfürsten jahrhundertelang investiert haben. 

Aus der gemeinsamen  Wurzel sind in den vergangenen 900 Jahren gewissermaßen zwei separate Stämme gewachsen—die zwar sichtlich miteinander verwandt sind, sich aber auch nicht gleichen.


[1] Die Geschichte der bairischen Ost-Kolonisation ist ebenso faszinierend wie vielschichtig, und schwer in wenigen Sätzen zusammenzufassen. Eine Skizze:

Der Machtbereich des bairischen Stammesherzogtums erstreckte sich im 6.-8. Jahrhundert bis zur Region zwischen Traun und Enns im heutigen Oberösterreich. Einer weiteren Expansion nach Osten standen fast 250 Jahre lang die Awaren im Weg: ein aus Zentralasien stammendes Reitervolk, das ab 568 die pannonische Tiefebene inklusive des Wiener Beckens kontrollierte. Der Sieg Karl des Großen über die Awaren 796 löste einen ersten bairischen Siedlungssschub donaubabwärts aus (die Awaren verschwanden anschließend aus der Geschichte—praktisch spurlos).

Mit den Ungarneinfällen ab 899 erlitt Baierns Ostexpansion einen schweren Rückschlag: die neu gewonnenen Gebiete gingen wieder verloren. Ein zweiter Wendepunkt kam 955 mit dem Sieg des kaiserlichen Heeres Ottos des Großen über die Ungarn auf dem Lechfeld bei Augsburg. Die Magyaren zogen sich daraufhin nach Westungarn zurück, was bairischen Siedlern erneut erlaubte, sich entlang der Donau nach Osten auszubreiten—und diesmal dauerhaft. 976 belehnte Kaiser Otto II. die Babenberger mit der Markgrafschaft Ostarrichi: der Kernzelle des späteren Österreich.

In der Gegend südöstlich Baierns hatten sich im späten 6. Jahrhundert im Zuge der awarischen Expansion slawische Stämme niedergelassen: die awarischen Fürsten ('Chagane') setzten slawische Siedler oft gezielt ein, um ihren Herrschafsraum abzusichern. Um 600 enstand das slawische Fürstentum Karantien mit Herrschaftszentrum in der Nähe des heutigen Klagenfurt.

In den folgenden Jahrzehnten empfand Karantien die Awaren jedoch zunehmend als Bedrohung. Um das Jahr 740 bat Karantenfürst Borouth deshalb den Baiernherzog Odilo um Schutz—den jener auch gewährte, allerdings um den Preis der Anerkennung bairischer Oberherrschaft. Kurze Zeit später begann die bairische Besiedlung Karantiens, angeführt von christlichen Missionaren aus den Bistümern Regensburg, Freising, und—vor allem—Salzburg. Die Zuwanderung setzte sich auch fort nachdem Karl der Große 788 Baiern und Karantien dem Frankenreich angegliedert hatte. Der immer geringer werdende slawische Bevölkerungsanteil wurde schrittweise assimiliert: aus Karantien wurde Kärnten.

[2] Mit Ausnahme des 'Rupertiwinkels': Salzburgs Besitzungen links der Salzach wurden Bayern zugeschlagen, darunter Laufen (heute Landkreis Berchtesgadener Land) und Waging (Landkreis Traunstein). Benannt ist der Rupertiwinkel nach Salzburgs Stadtheiligem Rupert, der um 700 im Auftrag der bairischen Herzöge das Bistum Salzburg gründete. 


Bildnachweise: 
- 'Sprachen und Dialekte in Bayern und Österreich': eigene Arbeit
- 'Der bairische Sprachraum': Stifterhaus - stifterhaus.at/forschung/sprachforschung/dialekte-in-ooe/bairisch
- 'Stammesherzogtum: Kern und Erweiterungen': Maximilian Dörrbecker (wikimedia commons)
- 'Innviertel': unknown author (wikimedia commons)
- 'Wiener Hofburg': bwag (wikimedia commons)
- 'Münchner Residenz': MagentaGreen (wikimedia commons)