Samstag, 28. Oktober 2023

Regensburg, Kelheim, Landshut, München: die Suche nach der bayerischen Hauptstadt

München ist Bayerns Hauptstadt. Dieser Satz scheint nahezu naturgesetzlich— dabei wurde München erst 1503, am Anfang der Neuzeit, zum unbestrittenen politischen Zentrum des Herzogtums Baiern. Welche Städte nahmen diese Rolle davor ein? Und seit wann gibt es eigentlich so etwas—eine „Hauptstadt“? Und eine „Stadt“? Eine Überblick über die altbayerische Hauptstadts- und Städtegeschichte.

Als das Stammesherzogtum Baiern Mitte des 6. Jahrhunderts in die Geschichte trat, residierten die Agilolfinger-Herzöge in Regensburg, in den Mauern des antiken römischen Legionslagers. Regensburg lag im äußersten Norden ihres Herrschaftsgebietes, aber auch verkehrsgünstig an der Donau. Hatten die Agilolfinger ihre Hauptstadt gut gewählt?

Das stadtarme Frühmittelalter

Iuvavum (Salzburg) in der Antike
Vermutlich gab es keine andere Wahl—denn es gab keine andere Stadt. Im frühmittelalterlichen Baiern lebten die meisten Menschen vom Land, städtische Wirtschafts- und Lebensformen—wie eigenständiges Handwerk oder Dienstleistungen—gab es kaum. Als Herzog Theodo II. um das Jahr 695 Rupert, den Bischof von Worms, beauftragte, einen Sitz für ein bairisches Bistum zu finden, fand dieser nur zwei geeignete Orte: Lorch an der Enns—ein weiteres ehemaliges Legionslager, das aber zu nahe am Awarengebiet lag und vor Angriffen nicht sicher war.[1] Und Salzburg, wo eine romanische Restbevölkerung in den Überbleibseln einer vormaligen Römerstadt (Iuvavum) lebte. Rupert blieb in Salzburg.

Einen ersten, bescheidenen Anfang der Urbanisierung brachte die Einrichtung weiterer Bistümer im frühen 8. Jahrhundert. Neben Salzburg—das zum Erzbistum erhoben wurde—und der Herzogsresidenz Regensburg wurden auch Passau und Freising Bischofssitze (ferner Eichstätt, das aber keine Gründung der Agilolfinger ist). Die Bistümer und—oft ebenfalls vom Herzog gestiftete—Klöster sollten das Land urbar machen, besiedeln und die Bevölkerung christianisieren. An den Bischofssitzen richteten die Baiernherzöge Pfalzen ein: Orte, an denen sie temporär wohnten, wenn sie das Land bereisten. Die zivilen Siedlungen, welche sich um die Bischofssitze bildeten, zählten meist nicht mehr als ein paar tausend Bewohner, vielleicht auch nur ein paar hundert. Für die nächsten 400 Jahre sollten sie die einzigen Städte in Baiern bleiben.[2]

Regensburg: Baierns erste Metropole

Eine Stadt jedoch ragt unter den frühen bairischen Städten heraus: Regensburg. Nicht nur war Regensburg der Hauptsitz der Baiernherzöge, ihr herzoglicher ‚Vorort‘.[3] Aufwertung erfuhr es ausgerechnet durch Karl der Großen, nachdem jener 788 den Baiernherzog Tassilo entmachtet und Baiern fränkischer Kontrolle unterstellt hatte. Karl verbrachte 791-93 Karl zwei Winter in Regensburg, um Baierns Eingliederung zu überwachen. Sein Beispiel machte Schule: spätere Karolinger-Herrscher ließen sich oft für längere Zeitabschnitte in Regensburg wieder, es wurde zur Kaiser- und Königspfalz.

Steinerne Brücke und Dom, Regensburg
Im Hochmittelalter setzte dann der Fernhandel für Luxusgüter ein. Dank seiner günstigen Lage an der Donau wurde Regensburg zum Umschlagsplatz für Waren aus Südosteuropa und dem Orient. Auch der Handel mit bairischem Salz aus Salzburg und Reichenhall lief größtenteils über Regensburg. Eine Schätzung beziffert Regensburgs Bevölkerung im Hochmittelalter auf 40.000 Menschen—damit wäre es Europas größte Stadt nördlich der Alpen gewesen.[4] Andere Autoren gehen allenfalls von der Hälfte aus, aber auch dann hätte es in der Umgebung nichts Vergleichbares gegeben (Tabelle unten).

Mit wachsendem Wohlstand entstand erstmals mal in Baiern ein Stadtbürgertum. Regensburger Patrizier bauten ab dem 12. Jahrhundert „Geschlechtertürme“, die italienischen Vorbildern folgten: vielstöckige Wohnhäuser, die bis zu 40 Meter hoch sein konnten. Sie prägen bis heute das Stadtbild. Regensburgs Händler und Kaufleute waren es auch, die 1135-46 den Bau der „Steinerne Brücke“ über die Donau finanzierten, eines für seine Zeit einmaliges Bauwerks.

Teuer bezahlte Unabhägigkeit

Anfang des 13. Jahrhunderts waren Regensburgs Bürger so selbstbewußt geworden, dass sie die ortsansässigen Fürsten herausforderten: den Bischof und, insbesondere, den Herzog. 1211 erbaten sie sich vom Kaiser ein eigenes Stadtsiegel, 1233 eine Stadtkanzlei. 1245 schließlich erklärte der Staufer-Kaiser Friedrich II. Regensburg für reichsunmittelbar: keine Autorität war Kaiser und Stadt mehr zwischengeschaltet. Für einen Herzog war damit kein Platz mehr—er musste sich eine andere Residenz suchen (siehe unten). Nach rund 700 Jahren endete Regensburgs Zeit als Hauptstadt Baierns.

Freie Reichsstadt Regensburg (Sonderbriefmarke) 
Bekommen ist Regensburg die Unabhängikgeit eher nicht. Baierns Herzöge, deren Territorium die Stadt einschloss, versuchten in der Folgezeit, Regensburg von den Handelsströmen abzutrennen. Auch flaute der Donauhandel ab, als die Osmanen im 14. Jahrhundert nach Südosteuropa vordrangen. Regensburg geriet zunehmend in Isolation. Der Warenumschlag verlagerte sich in andere süddeutsche Städte: Nürnberg und (etwas später) Augsburg. 

Ende des 15. Jahrhunderts erhoben sich Regensburgs Handwerker und forderten die Rückkehr ins Herzogtum. Fast hätten sie ihren Willen bekommen, aber Kaiser Friedrich III.—ein österreichischer Habsburger—gönnte Baiern den Machtzuwachs nicht und bestand auf Reichsunmittelbarkeit. So blieb Regensburg auf sich allein gestellt und verharrte in Stagnation.

Rivalen an der Isar: München und Landshut

Die nächste Phase der Hauptstadtsuche ist eng mit jener Familie verbunden, die Bayerns Geschichte  mehr als 700 Jahre lang prägen sollte: den Wittelsbachern. Im Jahr 1180 setzte Kaiser Friedrich Barbarossa den rebellischen Welfenherzog Heinrich den Löwen ab und übertrug das Amt auf seinen Gefolgsmann, Graf Otto von Wittelsbach. Otto bezog den Herzogshof in Regensburg. Der Drang der Regensburger nach Eigenständigkeit zwang die Wittelsbacher aber bald, sich nach Alternativen umzusehen. Zunächst bevorzugten sie Kelheim, das zum wittelsbacher Hausbesitz zählte und nur wenige Kilometer donauaufwärts lag—bis 1231 ein unbekannter Attentäter dort Ottos Sohn und Nachfolger ermordete. Ohne diesen Mord wäre Kelheim heute möglicherweise Bayerns Hauptstadt.    

Alter Hof, München
Die Wittelsbacher zogen daraufhin nach Landshut. 1255 teilten zwei Brüder, Ludwig II. und Heinrich, das Herzogtum unter sich auf. Ludwig nahm sich das „Oberland“, wählte München als herzogliche Vorstadt, und bezog den „Alten Hof“ am Rand der ummauerten Stadt. Heinrich bekam das „Niederland“ mit Vorstadt Landshut und residierte in der neu erbauten Burg Trausnitz.[5] Ober- und Niederland waren geographische Begriffe, welche die Lage der Teilherzogtümer an der Donau bzw. der Isar beschrieben, mit der Zeit sollten Ober- und Niederbaiern daraus werden.[6]

München und Landshut waren junge Städte, die erst während der hochmittelalterlichen Stadtgründungsphase des 12. und 13. Jahrhunderts entstanden waren. München verdankte seine Gründung dem schon erwähnten Heinrich dem Löwen. Heinrich ließ 1158 die föhringer Isarbrücke niederbrennen, die auf dem Gebiet des Bistums Freising lag, und erbaute eine neue Brücke einige Kilometer weiter südlich—an der Stelle der heutigen Ludwigsbrücke. Damit sicherte er sich Zolleinnahmen, welche zuvor Freisings Bischof abgeschöpft hatte. Landshut ist eine Wittelsbacher-Gründung aus dem Jahr 1204 und entstand aus einem ähnlichen Zwist um eine Isarbrücke, diesmal mit dem Bischof von Regensburg.

Das Spätmittelalter: Baiern verzwergt—und verstädtert

Viermal Baiern
Die Teilung von 1255 war nur der Anfang. In den kommenden 250 Jahren sollte Baiern unzählige Male geteilt, teil-vereinigt, erneut aufgesplittet, wiedervereinigt werden. Zeitweise gab es neben Oberbaiern-München und Niederbaiern-Landshut auch ein Oberbaiern-Ingolstadt und ein Niederbaiern-Straubing, ein Jahr lang (1331/32) sogar ein Niederbaiern-Deggendorf, während die Landshuter Herzöge in Burghausen eine Zweitresidenz unterhielten. Alle diese Städte waren Wittelsbacher-Gründungen des frühen 13. Jahrhunderts—innerhalb weniger Jahrzehnte hatte sich das Gesicht Altbayerns grundlegend geändert.[7]

München und Landshut blieben jedoch die Hauptresidenzen der Wittelsbacher, und Haupt-Rivalen um die Vorherrschaft in Baiern. Beide Städte wuchsen rasch, auch wenn sie Regensburgs einstige Pracht nicht erreichen sollten. Am Ende des Spätmittelalters zählte München vielleicht etwas mehr als 10.000 Einwohner, Landshut etwas weniger. Die benachbarten Bürgerstädte Nürnberg und Augsburg waren um ein Vielfaches größer (Tabelle).

München setzt sich durch

Entschieden wurde der Wettstreit durch die Biologie. 1503 verstarb der Landshuter Herzog Georg der Reiche, ohne einen Sohn gezeugt zu haben.[8] Ein wittelsbacher Hausvertrag von 1329 sah vor, dass Georgs Besitz den ‚überlebenden‘ Linien zufallen sollte, hier: dem Münchner Herzog Albrecht. Georg hatte kurz vor seinem Tod noch versucht, den Vertrag zu umschiffen, indem er seinen Schwiegersohn als Erben einsetzte. Als dies durchsickerte, brach Albrecht den Landshuter Erbfolgekrieg vom Zaun, den er mit Hilfe des Habsburger-Königs (und späteren Kaisers) Maximilian auch gewann.

Die Zeit der Teilungen war vorbei. München hatte sich durchgesetzt und sollte von da an alleinige Hauptstadt bleiben: 1506 erließ Albrecht das sogenannte Primogeniturgesetz, das künftige Landesteilungen verbat.[9] Landshut sank zu einer Provinzstadt herab—wenn auch zu einer besonders schönen.

Folgen der Teilung

Maximilian I., Baiern-Verkleinerer
Politisch waren die Teilungen des Spätmittelalters eine Katastrophe für Baiern. Nachdem die Teilherzöge hauptsächlich miteinander beschäftigt waren, konnten sie sich gegen Zugriff von aussen kaum wehren. Österreich war Baiern bereis im 12. Jahrhundert entglitten, nun verloren die Herzöge auch die Kontrolle über die bairischen Bistümer, insbesondere Salzburg—Sitz des Erzbischofs und damit gewissermassen Baierns geistige Hauptstadt. Tirol fiel im 14. Jahrhundert größtenteils an Österreich, die Oberpfalz ging für 300 Jahre verloren, Lauf und Hersbruck gingen an Nürnberg. Auch der oben genannte Maximilian ließ sich seine Hilfe für Albrecht königlich entlohnen: neben den noch verbliebenen bairischen Gemeinden in Tirol (u.a. Kitzbühel) sicherte er sich das Mondseegebiet im Salzkammergut.

Kulturell jedoch war die Teilungsperiode ein Gewinn. Sie brachten mehrere Residenzstädte hervor, die urbanes Leben in alle Ecken Altbayerns trugen. Bis heute bestimmen die Wittelsbacher-Residenzen, zusammen mit den frühmittelalterlichen Bischofssitzen der Agilolfinger, Altbayerns Städtelandschaft. Die urbane Dichte Frankens oder Schwabens konnte Altbayern damit nicht erreichen, aber ohne die Landesteilungen gäbe es heute möglicherweise nur Regensburg, Passau, Freising, Landshut oder München, und sonst—nicht viel.

Münchens Aufstieg zur Metropole: erst zäh, dann rapide

In der frühen Neuzeit wuchs München stetig, wenn auch nicht sonderlich schnell.[10] Noch zu Zeiten des Teilherzogtums waren das alte Rathaus und die Frauenkirche entstanden. Im 16. Jahrhundert kamen dann (u.a.) die Residenz und die Renaissancekirche St. Michael dazu, im 17. Jahrhundert die barocke Theatinerkirche und Schloss Nymphenburg, im 18. Jahrhundert die Asamkirche und der Englische Garten. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts jedoch schloss München mit rund 30.000 Einwohnern zu Augsburg und Nürnberg auf—obwohl jene Städte ihre große Zeit als Handelszentren da schon hinter sich hatten. Wien oder Berlin hatten längst über 100.000 Einwohner (Tabelle).

Klassizistisches München, 1842
Der Durchbruch zur Metropole kam erst im 19. Jahrhundert. In den 1830er und 1840er Jahren gab Ludwig I. München erstmals ein großstädtisches Aussehen, als er Leo von Klenze und Friedrich von Gärtner mit der Errichtung zahlreicher representativer, klassizistischer Bauwerke beauftragte, die er meist außerhalb der Altstadt ansiedelte. Klenze erbaute zum Beispiel die Glypothtek und die Propyläen auf dem Königsplatz, die alte Pinakothek, den Marstall und den Königsbau der Residenz. Von Gärtner sind u.a. die Universität, die Ludwigskirche, die Staatsbibliothek und die Feldherrenhalle am Odeonsplatz. 

Um 1850 durchbrach München erstmals die Schwelle von 100.000 Einwohnern und war damit die mit Abstand größte Stadt in Bayern. Die Eingliederung in das deutsche Kaiserreich 1871 sorgte für einen weiteren Schub: München wurde zur Metropole Süddeutschlands. Möglicherweise half, dass die übermächtige Konkurrentin Wien jetzt außerhalb der deutschen Grenzen lag. Um das Jahr 1900 erreichte München eine halbe Million Einwohner.

Heute ist München mit 1.5 Millionen Einwohnern nochmal um ein Dreifaches größer—innerhalb des deutschen Sprachraums wird es nur von Berlin (deutlich) und von Wien und Hamburg (knapp) übertroffen. Als kulturelles Zentrum reicht seine Bedeutung über Bayern hinaus, auch dies zumindest teilweise ein Erbe der kunst- und kulturverliebten Wittelsbacher.

Armut macht schön

Landshuter Altstadt
Regensburg und Landshut—Altbayerns ausrangierte Hauptstädte—haben sich ein anderes Erbe bewahrt: atemberaubende Schönheit. Beide Städte durchlitten nach ihrer Glanzzeit lange Stagnationsphasen, während derer die Mittel fehlten, um die mittelalterliche Pracht dem Zeitgeschmack anzupassen. Als Folge zeigen Regensburg und Landshut heute ein nahezu geschlossenes hoch- bzw. spätmittelalterliches Stadtbild—anders als München, das Bauten aller Epochen prägen. 

Aus Sicht dieses Autors ist es keine Überraschung, dass beide Städte in den letzten Jahrzehnten wieder besonders populär geworden sind.   



[1] Lorch liegt am Zusammenfluss von Enns und Donau im heutigen Oberösterreich. Im Jahr 700 wurde es tatsächlich von den Awaren zerstört.

[2] Von den Beschofssitzen war nur Freising eine wirkliche Neugründung. Passau, Regensburg und Salzburg haben alle römische Wurzeln.

[3] Die Existenz eines eindeutigen Vororts wie in Baiern ist im Frühmittelalter keineswegs selbstverständlich: Herrscher zogen oft von Pfalz zu Pfalz ohne festen Bezugspunkt.

[4] Die ursprüngliche Quelle ist wohl Josiah Cox Russell (1972), „Medieval Regions and their Cities”. Russell meldete  selbst Zweifel an dieser Zahl an („Basle and Regensburg are two cities whose populations are not easy to define in the pre-plague period“), und spätere Schätzungen korrigierten die Zahl meist deutlich nach unten. Russell’s Zahl hat sich jedoch verselbständigt und wird meist als Fakt ohne Quellenangabe oder Kontext wiedergegeben.

[5] Die Teilung war an sich rechtswidrig, denn herzogliche Lehen durften nicht aufgesplittet werden. Sie geschah im kaiserlosen „Interregnum“ des 12. Jahrhunderts, als die Zentralmacht zu schwach war, um das Recht durchzusetzen.

[6] Die mittelalterlichen Teilherzogtümer sind nur lose mit den heutigen Regierungsbezirken Ober- und Niederbayern verbunden. Letzteres sind historisierende Begriffe, die König Ludwig I. 1837 dem Isar- bzw. Unterdonaukreis gab, die sein Vater Maximilian und Graf Montgelas erst 1817 geschaffen hatten. Niederbaiern z.B. war deutlich größer als Niederbayern, es umfasste u.a. das Chiemgau, das Berchtesgadener Land, die Gegend um Mühldorf und Altötting, und das (heute österreichische) Innviertel.

[7] “Gründung“ bedeutet nicht notwendig, dass dort vorher gar nichts existierte. In München z.B. gab es bereits eine (namensgebende) Mönchssiedlung, in Burghausen eine (ebenfalls namensgebende) Burg und einen Markt, und Straubings Besiedlungsgeschichte reicht zurück bis in die Römerzeit.

[8] Alle Landshuter Herzöge des 15. Jahrhunderts trugen den Namenszusatz „der Reiche“, u.a. weil die ertragreichen Salzbergwerke von Reichenhall zu Niederbaiern gehörten. Georgs spektakuläre „Landshuter Hochzeit“ mit einer polnischen Königstochter im Jahr 1475 wird heute alle vier Jahre im Rahmen eines Volksfestes nachgespielt.

[9] Eine Ausnahme gab es dann doch noch: Albrechts Söhne, Wilhelm und Ludwig, einigten sich 1514 nochmals auf die Teilung des Landes—allerdings unter Bedingung, dass der jüngere Ludwig nicht heiraten und so keine erbfähigen Kinder zeugen würde. Von 1537 bis 1543 ließ Ludwig die Landshuter Stadtresidenz erbauen, den ersten Renaissancepalast Deutschlands.  

[10]  Auch wurde das Wachstum wiederholt von Epidemieausbrüchen und anderen Katastrophen unterbrochen. Baierns politische Geschichte der frühen Neuzeit ist zu komplex, um sie innerhalb dieses Artikels zu darzustellen. Sehr grob verkürzt war das wiedervereinigte Baiern zunächst ein relativ unbedeutender Mittelstaat, der zudem in kostspielige Auseinandersetzungen um Reformation und Gegenreformation hineingezogen wurde. Zwei fähige und langlebige Herzöge—Maximilian I. (1597-1651) und sein Sohn Ferdinand Maria (1651-79)—konsoliderten dann den Staatshaushalt, gaben Baiern eine moderne, früh-absolutistische Verwaltung, und lenkten das Land geschickt durch den 30-jährigen Krieg. U.a. kam die Oberpfalz 1623 größtenteils zurück zu Baiern, und der Herzog erlangte die „Kurwürde“: er war einer von sieben (später 8 bzw. 9) Fürsten, die den deutschen König wählten. Die nachfolgenden Kurfürsten versuchten, die Führungsrolle der Habsburger in Deutschland anzugreifen—und scheiterten, was Baiern im frühen 18. Jahrhundert mehrfach an der Rand seiner Existenz brachte. Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts war dann erneut eine Phase der Konsolidierung, bevor die napoleonischen Kriege das moderne Bayern hervorbrachten.


Bildnachweise: wikimedia commons, bis auf "Einwohnerentwicklung ausgewählter Städte (eigene Arbeit)

Donnerstag, 12. Oktober 2023

Franken ist anders

Die fränkischen Regierungsbezirke bilden nicht nur ein Drittel des Freistaats Bayern, sie beherbergen auch sieben seiner zwölf größten Städte: Nürnberg, Würzburg, Fürth, Erlangen, Bamberg, Bayreuth, Aschaffenburg. Höchste Zeit, den Franken und ihrer Geschichte einen eigenen Artikel zu widmen. Woher kommen die Franken? Sind sie die Nachkommen Karls des Großen? Sind Franken und Altbayern verwandt? Ist Nürnberg Frankens historische Hauptstadt? Antwortversuche auf diese und andere Fragen.

Kaum etwas ist Franken wichtiger, als nicht für (Alt-)bayern gehalten zu werden—und dies mit vollem Recht. Nicht nur sprechen Franken kein Bairisch, ihre Geschichte spielte sich auch mehr als 1000 Jahre lang getrennt von Baiern ab: erst Anfang des 19. Jahrhunderts nutzte Graf Maximilian von Montgelas die Wirrungen der napoleonischen Zeit, um den Großteil Frankens dem Königreich Bayern einzuverleiben.

Die fränkische Geschichte nachzuerzählen ist allerdings nicht einfach. Sie ist voller Begriffsverschiebungen und Brüche, zeitlich führt sie zurück bis in die Antike, räumlich in Gebiete, die hunderte Kilometer vom heutigen Franken entfernt liegen. Eine fränkische Identität formte sich nur schrittweise, sie basiert weniger auf gemeinsamen politischen Traditionen als auf räumlicher Nähe und einem gemeinsamen Dialekt.

Der Ursprung des Begriffs ‚Franken‘

Das antike Franken
Der Begriff ‚Franken‘ taucht erstmals im dritten nachchristlichen Jahrhundert auf. Germanische Stammesverbände am Niederrhein—die Chattuarier, Brukterer, Usipeter, etc.—hatten den Römern heftig zugesetzt, weshalb römische Autoren sie als „heftig“ oder „frech“ bezeichneten, also als: fränkisch. Der Niederrhein ist (grob gesprochen) die Gegend zwischen Bonn und der Rheinmündung und liegt hunderte Kilomenter vom heutigen Franken entfernt.

200 Jahre später war das römische Reich in Auflösung begriffen. Angeführt von Chlodwig I.—einem Kriegsherren aus der Familie der Merowinger, der sich zum Herrscher über alle fränkischen Stammesverbände aufgeschwungen hatte—eroberten die Franken erst den Großteil des heutigen Frankreichs, und besiegten dann in mehreren Schlachten (496, 506/7) die Alemannen. Chlodwigs Sohn Theuderich unterwarf 531 auch noch die Thüringer, und 536 übertrugen die Ostgoten den Franken kampflos das Voralpenland, um sich den Rücken freizhuhalten für ihren (letztlich erfolglosen) Überlebenskampf gegen das mächtige Byzanz.

Altfränkische Expansion, 481-555
Den ‚Altfranken‘—wie wir sie hier zur Unterscheidung vom modernen Franken nennen—war so ein riesiges Gebiet zugefallen, das sich weit über ihren ursprünglichen Siedlungsraum erstreckte. Die Merowinger-Könige bedienten sich verschiedener Strategien, um die Macht abzusichern. In entfernt liegenden Gegenden, wie Baiern oder Alemannien, setzten sie Herzöge aus fränkischem Adel ein, die stellvertretend Verwaltung und Gebietssicherung übernahmen. In angrenzende Regionen hingegen entsandten die Altfranken Kolonisten, um dort unmittelbar die Kontrolle zu übernehmen. Ab Mitte des 6. Jahrhunderts zogen fränkische Siedler erst den Mittelrhein und dann den Main hinauf. Um das Jahr 600 erreichten sie Unterfranken, ab ca. 650 gibt es einen fränkischen ‚Dux‘ mit Sitz in Würzburg (siehe unten).[1]  

Der Begriff ‚Franken‘ ist zugewandert, nicht die Menschen

Waren die zugewanderten Altfranken die Vorfahren der heutigen Franken? Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war diese Ansicht durchaus verbreitet, heute gilt sie als Geschichtsmythos. Die entscheidende Einsicht lieferte die Sprachwissenschaft: der fränkische Dialekt—den Linguisten „Ostfränkisch“ nennen—enthält kaum Spuren jener altfränkischen Sprache, welche die antiken und frühmittelalterlichen Franken sprachen.[2] Ostfränkisch ist stattdessen eng mit benachbarten Dialekten verwandt, inbesondere dem Bairischen und dem Schwäbisch-Alemannischen, mit denen es die oberdeutsche Großdialektgruppe bildet.

Plausibler ist, dass eine relativ kleine Anzahl altfränkischer Zuwanderer auf eine größere Vor-Bevölkerung stießen und rasch in dieser aufging. Diese Vor-Bevölkerung hatte sich nach der Völkerwanderung aus derselben, elbgermanisch geprägten Gemengelage geformt, aus der auch die anderen Stämme des süddeutschen Raums hervorgegangen sind: Alemannen, Baiern, Langobarden, Thüringer.

Sprache und Besiedelung

Sprachräume in Franken nach Klepsch (2009)
Der Dialekt enthält weitere Hinweise auf die Vor- und Frühgeschichte.[3] Das Unter-Ostfränkische um Würzburg etwa teilt wichtige Merkmale mit dem Thüringischen—und tatsächlich ist es im Frühmittelalter schwierig, zwischen ‚Franken‘ und ‚Thüringen‘ genau zu unterscheiden. Die Regionen standen zeitweise unter gemeinsamer Herrschaft und müssen in engem Austausch gestanden haben. Erst ab dem 9. Jahrhundert entwickelten sich Unter-Ostfränkisch und Thüringisch deutlich auseinander.  

Anders liegen die Verhältnisse beim Ober-Ostfränkischen, dem Dialekt Oberfrankens und des westlichen Mittelfranken—geographisch von Unter-Ostfränkisch durch die sogenannte ‚Steigerwaldschranke‘ getrennt. Ober-Ostfränkisch ist jüngeren Datums: seine Entstehung fällt zusammen mit der Expansion Frankens nach Osten.[4] Ausgangspunkt war das 1007 gegründete Bistum Bamberg, Ziel die Christianisierung slawisch besiedelter Gebiete.  

Slawische Ortsnamen

Bis heute verraten viele oberfräkische Ortsnamen das slawische Erbe: Treunitz, Rehau, Osseck, Schorgast. An der Osterweiterung müssen auch Hessen und Pfälzer teilgenommen haben, denn im Ober-Ostfränkischen finden sich lautliche Merkmale, die zwar typisch für die rheinfränkischen Dialekte Hessens und der Pfalz sind, in Unterfranken aber fehlen (etwa „Staan“ für „Stein“—in Unterfranken heißt es „Steen“).

Die fränkische Osterweiterung griff über das slawische Gebiet hinaus—wie erneut die Sprache verrät. Im Osten und Süden Frankens mischen sich bairische Töne in den Dialekt. In Nürnberg etwa heißt der Schuh „Schouh“, in Weißenburg die Brühe „Bröih“. Diese ‚gestürzten Diphtonge‘ sind typisch für das Nordbairische (=Oberpfälzische)—und tatsächlich wurde der fränkische Osten im 7.-9. Jahrhundert zunächst vom Bistum Regensburg aus besiedelt. Erst ab dem 12. Jahrhundert kamen Siedler aus ober-ostfränkischen Gebieten hinzu, insbesondere nachdem die Staufer Nürnberg zum Königshof ausgebaut hatten

Seitdem verfränkelt der Nürnberger Raum—ein Prozess, der bis heute andauert. Auf Dialektkarten jedoch findet sich die frühmittelalterliche Siedlungsgrenze weiterhin als „nordbairische Westschranke“. Sie verläuft quer durch Mittelfranken: Nürnberg und Fürth liegen auf der ‚bairischen‘ Seite der Schranke, Erlangen und Ansbach auf der fränkischen.

Franken bekommt seinen Namen

Soweit zur Siedlungsgeschichte. Seit wann aber wissen die modernen Franken, dass sie ‚Franken‘ sind? Der Historiker Jürgen Petersohn unterscheidet mehrere Phasen der ‚Frankogenese‘:

·    Im Frühmittelalter war die Gegend um Würzburg namenlos.

West- und Ostfranken um das Jahr 1000

·    Im 10. Jahrhundert setzte sich dann der Begriff „Ostfranken“ durch, auf Latein „Francia Orientalis“. Das Gegenstück war „Westfranken“ (oder „Francia Occidentalis“), welches das heutige Hessen, Rheinland-Pfalz, und das nördliche Baden-Württemberg umfaßte. Die Grenze der zwischen den beiden Franken verlief quer durch den Spessart. Bis heute bildet der Spessartkamm die Grenze zwischen ostfränkischen und rheinfränkisch-hessischen Dialekten.[5]

·    Im 12. Jahrhundert kam schließlich der Begriff „Westfranken“ außer Gebrauch. Stattdessen wurden die Landstriche am Mittelrhein jetzt als „rheinische Gebiete“ oder „Rheinland“ bezeichnet.

Damit hatte das Maingebiet den Namen ‚Franken‘ für sich allein. Zeitgleich verschob sich die lateinische Bezeichung für Ostfranken von „Francia Orientalis“ zu „Franconia“—seitdem der Name für Franken in fast allen Fremdsprachen.

Ein Land, aber kein Staat

Der spätmittelalterliche Frankenbegriff war vor allem geographischer und kultureller Natur—ihm entsprach (meist) kein politisches Gebilde, anders als bei Baiern, Schwaben oder Sachsen. Die Ursache liegt im Verhältnis Mainfrankens zur altfränkischen bzw. (ab 962) deutschen Zentralmacht.

Hierzu etwas Kontext. Machtverschiebungen zwischen Zentrum und regionalen Herrschern prägten die Geschichte in allen deutschen Regionen. Das Herzogtum Baiern etwa war in seiner Frühzeit (ca. 550-715) den Merowinger-Königen nur lose unterstellt—zu weit lag es vom altfränkischen Kerngebiet entfernt, zu groß wäre der Aufwand gewesen, es unmittelbar zu kontrollieren. Mit dem Auftstieg der Karolinger erstarkte die altfränkische Zentralmacht, regionale Fürsten kamen zunehmend unter Druck. 788 setzte Karl der Große den Baiernherzog Tassilo ab und übernahm direkt die Herrschaft. In der Nachfolge Karls kam es dann zu mehreren Landesteilungen, welche die Zentralmacht wieder schwächten—prompt formte sich das bairische Stammesherzogtum 907 neu.

Karl Martell
(Graphik aus dem 16. Jhd)
In Franken war der Zugriff der Zentralmacht stets direkter als in Baiern. In der Frühzeit ab ca. 650 gab es zwar—wie oben erwähnt—einen mainfränkisch-thüringischen Amtsherzog mit Sitz in Würzburg, das sogenannte „Hedenen-Herzogtum“. Es überdauerte aber nur knapp 70 Jahre: irgendwann zwischen 716 und 719 kassierte Karl Martell—der Großvater Karls des Großen—es ein. Von da an war Mainfranken meist Königsprovinz, d.h. direkt den altfränkischen und (ab 962) deutschen Kaisern und Königen unterstellt. Regionaler Hegemon und Identifikationsfigur war ab 742 der Bischof von Würzburg—ein geistlicher Herrscher, der den Frankenkönigen nicht gefährlich werden konnte.

Nur einmal erlangte Franken nochmals kurz Eigenständigkeit—während der gleichen Schwächephase des Reiches am Anfang des 10. Jahrhunderts, in der sich auch das bairische Stammesherzogtum neu formierte. Ausgangspunkt war die „Babenberger Fehde“, ein blutiger Konflikt um die Vorherrschaft im Maingebiet zwischen der mainfränkischen Adelsfamilie der Babenberger und ihren rheinfränkischen Rivalen, den Konradinern.[6] Die Konradiner setzten sich durch und errangen nach dem Aussterben der Karolinger 911 sogar die Königskrone. Sie beharrten aber nicht auf ihr, sondern handelten ein Abkommen mit den aufstrebenden Sachsenherzögen aus: die Konradiner halfen dem Sachsen Heinrich bei der Königswahl von 919, dafür sicherte jener dem Konradiner Eberhard fast unbeschränkte Herrschaft in Ost- und Westfranken zu. Aber auch dieses zweite fränkische Herzogtum war nur von kurzer Dauer: schon 939 setzte ihm Heinrichs Sohn, Kaiser Otto I., ein Ende.

Der fränkische Flickenteppich

Das eifersüchtigte Wachen der Zentralmacht, niemand zu stark werden zu lassen, begünstigte die Ausbildung zahlreicher mittlerer und kleinerer Herrschaften, die für Franken so typisch ist.[7]

·    Im mainfränkischen Kerngebiet— grob dem heutigen Unterfranken entsprechend—dominierten, wie schon erwähnt, die Würzburger Bischöfe. Sie sahen sich gern als die eigentlichen Wahrer des Frankentums, und gaben sich im Spätmittelalter sogar den Titel „Herzöge in Franken“. Dies blieb aber ohne praktische Konsequenzen, da die Bischöfe herzögliche Kernkompetenzen, wie die Oberaufsicht über das Gerichtswesen, stets nur in ihrem unmittelbaren Herrschaftsbereich durchsetzen konnten.

Nürnberger Burg

·    Speerspitze der fränkischen Osterweiterung war das Bistum Bamberg—es war extra zu dem Zweck gegründet worden. Konkurrenz erwuchs ihm in Gestalt der Nürnberger Burggrafen, welche die Salierkaiser bewusst als Gegengewicht eingesetzt hatten. Ab 1191 stellten die Zollern (später Hohenzollern) die Burggrafen und erwarben ein bedeutendes Territorium im heutigen Ober- und Mittelfranken—finanziert u.a. aus den Erträgen des Bergbaus im Fichtelgebirge.

·    Über diesen „großen drei“ hinaus gab es (i) kleinere fränkische Grafschaften, wie Henneberg, Castell, Rieneck, Hohenlohe, Wertheim, (ii) Reichsstädte wie Hall, Heilbronn, Rothenburg, Schweinfurt, Windsheim, und (iii) zahlreiche niederrangige Herrschaften—etwa Reichsritter, deren Territorien oft nur ein paar Dörfer umfassten.

Nicht zu Franken zählte die Stadt Nürnberg.[8] Wie bereits erwähnt lag sie auf dem Gebiet des bairischen Nordgaus, bis in die frühe Neuzeit sprachen die Stadtbewohner eher bairisch als fränkisch. Aber die Nürnberger empfanden sich auch nicht als Baiern. Als Bürger einer selbstbewussten, großen Kaufmanns-, Handwerker- und Reichsstadt (ab 1219) hegten sie keinen Wunsch, irgendwo dazuzugehören: „...doch wöllen die Nürmberger weder Bayern noch Francken aber ein drittes besunders geslecht sein“, so der nürnberger Humanist Hartmann Schedel in seiner Weltchronik von 1493. Nürnberg stand vor allem für: sich selbst.  

Franken in der Neuzeit

Es würde diesen (ohnehin schon langen) Artikel sprengen, sich auch der Neuzeit noch ausführlicher zu widmen. Drei Entwicklungen bedürfen jedoch der Erwähnung.

·    Erstens ist da die Reichsreform Kaiser Maximilians I. von 1500-1512. Sie schuf zwölf Reichskreise: Zusammenschlüsse benachbarter Herrschaften, die gemeinsam reichshoheitliche Aufgaben wahrnehmen sollten, wie das Münzwesen oder die Landesverteidigung. Nürnberg schlug Maximilian dem fränkischen Reichskreis zu. Von da an wurde es meist zu Franken gezählt.[9]

·    Zweitens die Reformation, beginnend mit Luthers Wittenberger Thesenanschlag 1517. Nürnberg wurde schnell zu einem Zentrum des Luthertums, aber auch die meisten weltlichen Herrschaften Frankens schlossen sich der neuen Lehre an, allen voran die Markgrafen von Ansbach und von Kulmbach-Bayreuth (die Nachfolger der Nürnberger Burggrafen). Die Fürstbischöfe von Würzburg und Bamberg standen auf der anderen Seite des Konflikts: sie wehrten sich vehement gegen den Protestantismus und wurden zu treibenden Kräften der katholischen Gegenreformation.

Die Reformation leitete mehr als 100 Jahre schwerer Konflikte ein, während der fränkische Landstriche wiederholt gewaltsam den Herrscher wechselten. Beruhigung brachte erst das Ende des 30-jährigen Krieges 1648. Frankens Konfessionsgrenzen waren von da an weitgehend festgelegt. Seitdem gibt es einen katholischen (Würzburg, Bamberg, später auch Aschaffenburg) und einen evangelisch-lutherischen (u.a. Nürnberg, Bayreuth, Ansbach) Teil, die ungefähr gleich groß sind. Die katholischen Gebiete sollten sich in der Folgezeit eher nach Süden orientierien—nach Rom, Wien, München—die evangelischen nach Norden, insbesondere Berlin.

·    Schließlich die napoleonischen Kriege von 1800-1815, in deren Zuge Franken größtenteils zu Bayern kam. Geschuldet war dies vor allem dem Geschick des bayerischen Ministers Maximilian Montgelas, der mehrfach rechtzeitig die Kriegsseite wechselte und sich von den jeweiligen Siegern—erst Napoleon, dann der anti-napoleonischen Allianz—königlich entlohnen ließ.

Das moderne Franken

Ganz im Geist der Zeit gab Montgelas dem erneuerten und fast verdoppelten Bayern eine streng zentralistische Ordnung. König Ludwig I. erfand 1838 dann die Regierungsbezirke Unter-, Ober- und Mittelfranken, und nannte sich außer „König von Bayern“ auch „Herzog von Franken“. Sein Franken besteht im Wesentlichen bis heute. Es ist nicht ganz deckungsgleich mit dem traditionellen Franken: das Henneberger Land und der Taubergrund etwa, die einst zum fränkischen Reichskreis gehörten, sind heute Teil anderer Bundesländer (Thüringen bzw Baden-Württemberg). Anderseits umfaßt das bayerische Franken auch Aschaffenburg, das bis 1803 zum Bistum Mainz gehörte und dessen Bewohner hessisch sprechen.[10]

Franken in Bayern

Montgelas‘ und Ludwigs Bayern brachte Gebiete zusammen, die zwar durchaus einiges gemeinsam hatten, vieles aber auch trennte. Gemeinsam sind Altbayern, Franken und Schwaben der oberdeutsche Dialekt und die süddeutsch-elbgermanische Herkunft—Wurzeln, die weit in die Vergangenheit reichen, in vor- und frühhistorische Zeiten.

Würzburg—das erste und einzige Zentrum Frankens
Anders sind vor allem die politischen Traditionen. Baiern war seit seiner Entstehung im 6. Jahrhundert meist ein halb-souveräner Zentralstaat, der ganz auf Herrscher, Hof und Hauptstadt ausgerichtet war. Regensburg war im Früh- und Hochmittelalter der Mittelpunkt Baierns, im Spätmittelalter konkurrierten Landshut und München miteinander, seit der Neuzeit findet das bairische politische Leben in München statt. Für Franken kann man allenfalls im Frühmittelalter—als der Begriff ‚Franken‘ in seiner heutigen Bedeutung noch gar nicht existierte—von Würzburg als Mittelpunkt sprechen. Danach bildeten sich verschiedene Zentren heraus: Bamberg und Nürnberg, Kulmbach, Bayreuth, Ansbach. Diese Zentren existierten nebeneinander, standen für unterschiedliche politische Traditionen, konkurrierten gelegentlich—aber fast nie war eine Stadt der anderen vorgeordnet.

Franken war nun Teil des zentralistischen Bayerns geworden. Für viele Franken war dies ein Schock, insbesondere in den evangelischen Gebieten—und am schlimmsten wohl für die Bürger freier Reichsstädte wie Nürnberg, die sich plötzlich als ‚Fürstenknechte‘ wiederfanden. In den ersten Jahrzehnten der bairisch-fränkischen Zwangsehe provozierte dies heftige Konflikte, bis hin zu Aufrufen nach gewaltsamem Abfall, z.B. während der deutschen Revolution 1849. Entspannung brachte erst die Eingliederung ganz Bayerns 1871 in das Deutsche Reich: Franken bekam so einen zweiten Bezugspunkt.

Inzwischen ist die ‚Ehe‘ mehr als 200 Jahre alt, und es scheint, als seien die meisten Franken in Bayern angekommen—wohl auch, weil es ihnen als Teil des Freistaats nicht so schlecht ergangen ist. Aus Sicht dieses Autors ist das erfreulich. Bayern wäre weit weniger interessant, wenn es nur aus Altbayern bestünde. Und auch Franken wäre enger und begrenzter—a weng fad halt—würde es nur im eigenen Saft schmoren. Darüber hinaus fehlte einem fränkischen Zentralstaat der historische Bezug—tatsächlich eifert ein solcher Wunsch dem bayerischen Beispiel nach.[11]

Der Frankenrechen
Und doch: es wäre schön und angemessen, wenn die Verfasstheit des Freistaats nicht nur altbayerische sondern auch fränkische—und schwäbische—Traditionen widerspiegeln könnte. So sollte der—dem Wappen der Würzburger Bischöfe entnommene—Frankenrechen z.B. selbstverständlich in den fränkischen Regierungsbezirken als zweite Staatsflagge gelten. Nürnberg könnte zur zweiten Landeshauptstadt erhoben werden, Augsburg zur dritten—der traditionellen Multipolarität Frankens und Schwabens Rechnung tragend. Auch Regensburg und Würzburg hätten einen besondereren Status durchaus verdient, angesichts ihrer historischen Bedeutung für Altbayern bzw. Franken.

Schließlich: von 1946 bis 1999 gab es den bayerischen Senat: eine Honoratorenversammlung, die als zweite Parlamentskammer diente, und die ein Volksbegehren zurecht abschaffte. Als förderale Kammer hätte der Senat mehr Sinn gemacht, gebildet aus Vertretern der Regionen des Freistaates. Manche Entscheidungen hätten vielleicht sogar mit einer Sperrminorität von einem Drittel belegt sein können. Ohne Franken wäre dann nichts gegangen—ein Satz, der sich auf fränkisch reimt.



[1]  Die Quellenlage ist dünn, was oft keine genauen Zeitangaben zulässt.

[2] Altfränkisch entwickelte sich weiter zum Niederfränkischen, was wiederum die Grundlage der modernen niederländischen Hochsprache bildet. Anders als Ostfränkisch weisen rhein- und moselfränkische Dialekte—grob die Dialekte Hessens, des Saarlands und von Rheinland-Pfalz—stärkere altfränkische Prägung auf. Im Frühmittelalter war die Ähnlichkeit noch größer, im Zuge der zweiten germanischen Lautverschiebung—welche die rhein- und moselfränkischen Dialekte zum Teil mitmachten, das Niederfränkische aber nicht—drifteten sie jedoch auseinander.

[3] Dieser Abschnitt folgt eng der Argumentation des Sprachwissenschaftlers Alfred Klepsch.

[4] Die fränkische Expansion geschah im Kontekt der deutschen Ostsiedlung—eines weit größereren Prozesses des Hochmittelalters, zu dem auch die Expansion Baierns donauabwärts in das Wiener Becken zählt.

[5]  Franken“ bezeichnete im 10. Jahrhundert also jene Gegenden an Mittelrhein und Main, welche die Altfranken im Frühmittelalter erobert hatten—und nicht mehr das antike Siedlungsgebiet am Niederrhein. Lezteres hieß inzwischen „Niederlothringen“ nach dem fränkischen Teilkönig Lothar II., dem in der Teilung von Prüm 855 „Lotharingien“ mit Hauptstadt Aachen zugesprochen worden war. „Ostfranken“ und „Westfranken“ dürfen nicht mit den ostfränkischen und dem westfänkischen Reichen verwechselt werden, die im Zuge der fränkischen Reichsteilung von 843 entstanden (Vertrag von Verdun). Ost- und Westfranken waren beide Teil des ostfränkischen Reichs, aus dem westfränkischen Reich entwickelte sich Frankreich.

[6] Die Stammburg der Babenberger lag auf dem heutigen Bamberger Domberg.

[7] Der politischen Zersplitterung entsprechen kleingliedrige Dialekträume: während in Altbayern der Dialekt zwischen Ingolstadt, Landshut und Rosenheim weitgehend identisch ist, können sich in Franken Aussprache und Vokabular von einem Dorf zum nächsten merklich ändern.

[8] Ebensowenig Weißenburg.

[9] Es gab auch keine andere praktische Möglichkeit, denn die benachbarte Oberpfalz ging an den kurrheinischen Kreis. Der bairische Kreis (der u.a. auch Salzburg enthielt) war damit weit entfernt.

[10] Ebensowenig berherbergt der Freistaat Bayern allerdings alle Bairisch-Sprecher—der größere Teil lebt in Österreich.   

[11] Nach Ansicht dieses Autors sollten wir Europäer ohnehin lernen, innerhalb unserer Grenzen zu leben, und nicht bei jeder Unstimmigkeit versuchen, die Landkarte neu zu zeichnen. Wenig hat in der europäischen Geschichte mehr Schaden angerichtet als dieser Reflex.    

____________________________

Die Hauptquellen für diesen Artikel sind Anna Schieners ‚Kleine Geschichte Frankens‘ (7. Auflage, 2022), ‚Franken im Mittelalter‘ von Jürgen Petersohn (2008) und das ‚Fränkische Dialektbuch‘ von Eberhard Wagner (1987). Ferner der Aufsatz ‚Fränkische Dialekte‘ von Alfred Klepsch im Historischen Lexikon Bayerns (2009), sowie ältere sprachhistorische Werke, insbesondere ‚Sprachraumbildung und Landesgeschichte im östlichen Franken‘ von Hugo Steger (1968) und ‚Die Deutsche Schreibsprache in Nürnberg von ihrem ersten Auftreten bis zum Ausgang des 14. Jahrhunderts‘ (1954) von Josef Pfanner. Sehr hilfreich auch der youtube-Kanal "Franken Herz Europas" von Johannes Pechstein, der mich u.a. auf Petersohn verwies. 

Bildnachweise: alle Wikimedia Commons, bis auf 'Sprachräume in Franken', das dem Artikel Alfred Klepschs im Historischen Lexikon Bayerns entnommen ist.